Ganz und doch nicht ganz
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Die Folgen eines verlorenen Zwillings
In diesem Beitrag möchte ich meine Erfahrungen und Beobachtungen zu einem Thema teilen, das deutlich mehr Menschen betrifft, als man erwarten würde.
Ich möchte auf eine mögliche Ursache hinweisen für das im folgenden beschriebene Lebensgefühl, das sich auf die private und berufliche Ebene auswirkt. Dies sind eine permanente innere Anspannung, das Gefühl von Getrieben-Sein, das Empfinden, dass es nie ausreicht, was man gibt, nicht gesehen und ge- hört zu werden. Manchmal wird beschrieben, dass das Leben nur noch ein funktionieren und das Erfül- len von Erwartungen ist.
Wer kann davon betroffen sein?
Menschen, die sich unentbehrlich machen oder in einer steten Habachtstellung befinden, die das Ge- fühl haben nicht zu genügen, nicht gesehen und gehört zu werden usw. Eine mögliche Ursache hier- für liegt in einer dramatischen Erfahrung, die in der frühen Schwangerschaft stattgefunden hat – der Abgang eines Zwillingsgeschwisters.
Wie kam ich zu diesem Thema?
Seit Beginn meiner therapeutischen Tätigkeit war die Thematik des verlorenen Zwillings immer wieder präsent. Anfangs war mir dies noch nicht bewusst. Immer wieder wurde mir erzählt, dass die Betroffe- nen sich erinnerten, ihren Eltern wiederholt die Frage „wo ist mein Bruder“ oder „wo ist meine Schwester“ gestellt zu haben. In der Regel ahnten die Mütter noch nicht einmal etwas von ihrer Mehrlingsschwan- gerschaft.
Auch traten wiederholt auffallend ähnliche Themen und innere Konflikte auf. Der Rückschluss, dass der traumatische, unbemerkte Verlust eines Zwillings dabei eine Rolle spielen könnte, bestärkte sich. Selbst heute noch herrscht vielfach die Ansicht vor, dass Föten nichts merken. Möglicherweise darf diese Ansicht neu überdacht werden.
Die Erinnerung daran, dass da jemand war mit dem wir „Ganz“ waren, und der plötzlich für immer ver- schwunden ist, ist in unserem Zell- und Körperge- dächtnis gespeichert.
Diese Empfindung, dass ein Teil fehlt, ist so tief in uns verwurzelt, dass sie im Wesentlichen die Wirk- lichkeit des eigenen Seins prägt, wie auch die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst wahrneh- men und erleben.
Vielfach wird beschrieben, dass sie sich immer als anders wahrgenommen haben. Es war nicht fassbar: ein Paradox, Ganz und doch nicht Ganz. Dieser Verlustschmerz ist so dramatisch, dass wir ihn uns kaum vorstellen und nachempfinden können. Sie waren eine Einheit und plötzlich ist der weiter lebende Teil nur noch halb.
In der Regel bleibt der Verlust im Mutterleib unbe- merkt und doch lässt er weder den überlebenden Zwilling noch die Mutter unberührt. Die Erinnerung daran ist zutiefst unbewusst und somit auch die der fehlenden tiefen Bindung, der Ganzheit. So beginnt mit diesem Verlust eine ewige unbewusste Suche.
Die Bindung zwischen Zwillingen ist neben der Mut- ter-Kind-Bindung die tiefste Bindung, die es gibt. Ein Kind kann nur mit der Mutter ins Leben kommen. Auf die Auswirkungen zwischen Mutter und dem überlebenden Zwilling wird hier nicht eingegangen.
Manche, die dies erlebt haben, wissen davon, ohne dass sie sich der Auswirkungen bewusst sind. Die meisten Betroffenen sind ahnungslos. Dabei ist es eine Thematik, die deutlich mehr Menschen betrifft, als erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass mehr als 50% der angelegten Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften sind. Die Natur ist grundsätzlich auf Fülle angelegt, und wir sind ein Teil der Natur.
Welche Herausforderungen ergeben sich daraus?
Der Schock plötzlich allein und nur noch halb zu sein, ist immens. Zwillinge nehmen sich im Mutterleib als Ganzheit wahr. Der plötzliche Verlust der zweiten Hälfte, kann nicht verstanden werden. Das Ereignis kam aus dem Nichts. Es bestand keine Möglichkeit der Einflussnahme. Das plötzliche Fehlen der zweiten Hälfte ist ein Schock, und nur der Teil, der in der Materie verbleibt, hat die Herausforderungen zu be- wältigen, die das Leben ihm stellt. Die Eigenwahr- nehmung ist, dass die Ganzheit nicht mehr besteht. Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen sich selbst und der Umwelt bildet sich erst im Rahmen der frühkindlichen Entwicklung aus. Die Eigenwahr- nehmung ist nach dem Verlust gestört – sie ist nur noch halb. Auch ist durch den Verlust, unter ande- rem die Sicherheit des Platzes und die Zughörigkeit nicht mehr gegeben. Wir können nur überleben, wenn wir ein Teil von einem System sind.
Des weiteren gibt es noch keine Zeit und kein Zeit- verständnis. Diese entwickelt sich erst zwischen dem fünften und zehnten Lebensjahr. Die Entscheidungen, die unbewusst getroffen wer- den, sind sozusagen in der Ewigkeit verankert und wie in Stein gemeißelt. Erst nachträglich können sie entdeckt, erkannt und in Worte gefasst werden.
Der Schmerz dieses Verlustes ist dramatisch für den überlebenden Zwilling. Dieser Schmerz wird abgespal- ten und im Zell- und Körpergedächtnis abgespeichert. Möglicherweise ist dies das traumatischte Ereignis was einem Menschen widerfahren kann.
Welche Faktoren spielen eine Rolle?
Welcher Überlebensreflex wurde durch diesen Schock aktiviert? Viele begeben sich in den Rückzug, an- dere in den Kampf oder flüchten aus Situationen. Die Abgrenzung ist schwierig, da keine natürliche energetische Schutzhülle entstehen konnte, weil sich der überlebende Zwilling nur als halb wahrnimmt. Da es keinen Grund für den Verlust gibt, werden verschiedene Kompensationsstrategien entwickelt.
Das Trauma des Verlustes
Eine bedrohliche Situation bedeutet eine starke Stressreaktion. Über die Ausschüttung von Hormonen wird die Leistungsfähigkeit des Körpers maximal ge- steigert und sämtliche Energiereserven werden dabei mobilisiert. Die Emotionen werden abgespalten und der Körper wechselt in den Überlebensmodus. Die aktivierten Energien und die damit verbundenen Emotionen werden eingefroren und ebenfalls ab- gespalten, wenn kein Ausweg aus der Situation ge- funden wird. Auch noch als Erwachsene erleben wir einen Verlust aus dem Nichts als sehr dramatisch. Die Abspaltungsprozesse und Vermeidungsstrate- gien verbrauchen fortwährend Kraft und erschöpfen die Energiereserven, um die psychische Struktur zusammen zu halten. Dies hat Auswirkungen auf unser Seele-Geist-Körper System und auch physische Reaktionen sind möglich.
Welche Emotionen können sich daraus ergeben?
Folgende Empfindungen und Reaktionen haben Betroffene geäußert: Scham, Schuld, Versagen, Einsamkeit, abgrundtiefe Trauer, Hilflosigkeit, Isolation, keine Zugehörigkeit, immer auf Leistung ausgerichtet. Verzweiflung bis hin zu Depressionen, das Gefühl der Ablehnung sich selbst gegenüber und/oder von Anderen und der innere Druck nicht gut genug zu sein. Sich um sein Leben betrogen fühlen. Das Empfinden kein Recht auf ein Leben zu haben, sie müssen es sich verdie- nen. Betroffene geben oft ein Gefühl der Überforde- rung, Erschöpfung, Sinnlosigkeit, das Empfinden nicht gesehen und gehört zu werden, an. Das große Nicht-Verstehen und die innere Leere erschweren die Verarbeitung eines späteren Verlustes, wie zum Beispiel den Tod einer Bezugsperson. Das Gefühl von Entwurzelung, unterschwellige Aggression, Orientierungslosigkeit und latente Todessehnsucht können auftreten. Manche empfinden sich wie ein Alien innerhalb der Familie und fühlen sich fremd. Als seien sie falsch oder anders wie die anderen. Auch wird manchmal die Furcht davor, etwas zu ver- lieren und etwas zu vergessen, angegeben. Das Leben erscheint ohne Freude, da sich die Betroffe- nen wie immer außerhalb von allem, empfinden.
Welche Auswirkungen kann dieser Verlust haben?
Der Verlust der Einheit mit dem Zwilling hat massi- ve Auswirkungen, da alles als getrennt wahrgenom- men wird. Es ist nicht mehr ganz. Durch den Verlust entsteht ein Trauma, und die natürliche Weiterent- wicklung ist verändert. Die Emotionen werden ein- gefroren und es ist, als würde ein Teil der eigenen Identität vermisst. Der überlebende Zwilling wird unter Umständen nie wissen, was oder wen er ver- misst. Und dennoch: etwas lässt ihn weiterleben. Im Allgemeinen zeigt sich eine ewige Habachtstel- lung und entsprechende Angespanntheit, denn etwas derartig Unerwartetes darf sich nie wieder ereignen. Manchmal wird auch versucht durch verschiedene Strategien die Kontrolle über Situationen zu bewah- ren. Dies sichert den Platz im System. Eine andere Möglichkeit ist, sich unentbehrlich zu machen, pflege- leicht und die nette verlässliche Person zu sein. Dies ist begleitet von einer ewigen inneren Unruhe. Auch stressen Entscheidungen Anderer, die über den eigenen Kopf hinweg getroffen werden und bei denen die Person keinen Einfluss darauf hat. Manchmal werden Veränderungen vermieden um eine Stabilität für sich zu bewahren.
Mit welcher Strategie wird überlebt?
Wurde der Weg des Rückzugs aktiviert, habe ich als Überlebensstrategie der Betroffenen beobachtet, dass sie sich unentbehrlich machen, pflegeleicht sind, alle Aufgaben zur Zufriedenheit aller erfüllen und sich dadurch überfordern. Die Idee dabei ist, dass sie sich auf diese Weise einen sicheren Platz im System erschaffen und dazu gehören. Sie sind immer hilfsbereit und können nicht nein sagen. Jede Bitte und Erwartung wird erfüllt, auch wenn es eine Überforderung ist. Sie sagen „ja“ zum Ge- genüber und geben sich selbst ein „nein“. Sie sind diejenigen, die beruflich wie auch privat ein Burn- out entwickeln können. Manchmal habe ich beobachtet, dass auch eine gegenteilige Strategie dem Überleben dienen kann. Menschen mit Täter-Strategien nehmen im Gegen- satz zu Menschen mit Helfer- und Opferstrategien wesentlich seltener Unterstützung in Anspruch. Einige Betroffene, die sich in dieser Welt und im Leben fremd und nicht zugehörig fühlen, suchen ihre Heimat in der geistigen Welt.
Mögliche Folgen durch den Verlust eines Zwillings
Oft besteht eine fortwährende Enttäuschung für Betroffene, da sie keine Anerkennung, kein Lob und keine Wertschätzung bekommen. Somit fühlen sie sich weder gesehen, noch gehört. Auch kann sich © Dr. rer. nat Marlies Koel 3 daraus eine eingeschränkte Bindungsfähigkeit er- geben. Möglicherweise entstehen Selbstbestrafungs- Tendenzen und Verbote für ein glückliches erfolg- reiches Leben. Ruhepausen können sich Betroffene nur über Krankheiten und Schmerzen erlauben. Unbewusst kann der verlorene Zwilling in Partner- schaften gesucht werden, privat wie auch beruflich. Das Loslassen von Situationen und Menschen gestaltet sich schwierig. Es wird beinahe wie ein Sterben erlebt. Opfer-Täter-Dynamiken können sich leicht entwickeln. Helferstrukturen können sich auch selbstzerstöre- risch auswirken, da kein „ja“ zu sich selbst besteht. Es ist beinahe wie ein Zwang, sich für andere zu verantworten, um andere zu retten, damit sich nie wieder ein derartiger Verlust ereignen kann.
Sich um andere zu kümmern, um selbst nicht ver- lassen zu werden, führt dazu, dass es keine Grenzen gibt. Man wird gelebt und lebt nicht selbst. Perfektionismus und eine extrem hohe Pflichter- füllung können die Folge und der Nährboden für Erschöpfungs-Symptomatiken sein.
In Beziehungen verlassen zu werden, stellt für über- lebende Zwillinge eine Katastrophe dar. Andere fühlen sich nur lebendig, wenn sie von Katastrophen oder Stress umgeben sind. Diese wiederum stellen eine Überforderung dar. Manche fühlen sich nie si- cher, was ein Nährboden für irrationale Ängste wer- den kann. Möglicherweise herrscht ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken vor. Alles ist ein „entweder- oder.“ Ein „sowohl als auch“, sowie ein „und“ ist nicht vorhanden und so erschwert sich dessen Leben. Auch kann sich das Gefühl einer Sinnlosigkeit im Leben entwickeln und muss kompensiert werden. Andere Menschen und Situationen werden nicht immer verstanden und sind nicht wirklich einschätz- bar. Gegebenenfalls kann eine Handlungsunfähigkeit für sich selbst bestehen. Das „ja“ zu sich selbst fehlt und wird stattdessen den Anderen gegeben.
Weitere mögliche Reaktionsmuster sind Perfektio- nismus, eine hohe Leistungsbereitschaft, immer auf der Suche mit der Tendenz sich in Beziehungen aufzulösen, nach Trennungen unverhältnismäßige Reaktionen, die Bereitschaft sich zu verausgaben und Risiken einzugehen, die schädlich sein könnten, begleitet von der Eigenwahrnehmung, unvollständig zu sein. Ausgeprägte Coping Mechanismen wie eventuell ein unbewusstes oder bewusstes ständig mit dem Tod beschäftigt sein. Es geht um die ewige Suche nach der Ganzheit. Des weiteren bestehen auch Auswirkungen in Be- zug auf Beziehungen. Oft werden unbewusst hohe Erwartungen an Bezugspersonen gestellt, die nicht erfüllt werden können.
Kann dieser Verlust geheilt werden?
Ja, er kann geheilt werden. Es ist ein längerer und individueller Prozess, bei dem verschiedene Techniken und Methoden zur Anwendung kommen. Bereits das Erleben, das Verstehen und Erkennen, in welcher Art und Weise sich der Verlust des Zwillings auf das eigene Leben ausgewirkt hat, entlastet sehr. Eine Entflechtung kann stattfinden. Es kann ent- deckt und gefühlt werden, dass man schon immer Ganz war und sich infolgedessen als jemand Eigen- ständiges wahrnehmen. Das Suchen kann aufhören.
Die Lösung liegt in uns selbst, in unserem Inneren. Und in unserem Mut sich dem Ereignis zu stellen und alles zuzulassen und zu fühlen, was sich zeigt und da ist. In diesem SO-Sein dürfen wir unsere Lebenskraft erleben, neue Lebens-Entscheidungen treffen und neue Wege gehen. Die Erkenntnis, sich das tiefe Bedürfnis nach einem Platz und nach Sicherheit selbst erfüllen zu können, ist heilend. Dadurch kann die Suche beendet werden und es wird möglich, sich selbst eine Bedeutung und einen Platz zu geben. Sich in sich selbst zu be- heimaten.
Die Sehnsucht nach einem Leben ist in uns, und dennoch sind wir vielfach nur mit dem Überleben beschäftigt. In der Aufarbeitung des Traumas geben sich Betroffene die Chance, das Leben, den eigenen Raum und den eigenen Platz im Leben neu zu ent- decken und aktiv selbst zu gestalten.
Eine weitere Chance ist, zu lernen in Möglichkeiten zu denken und das wir jederzeit neu wählen können uns neu für das Leben zu entscheiden.
Gerne stelle ich im Rahmen von Einzelsitzungen und Workshops meine Erfahrung und mein Wissen zur Verfügung.
- Download: 12_Verlorener_Zwilling.pdf (88,7 KiB)