Unser Leben: Eine „nicht artgerechte Menschenhaltung?“
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Wie leben wir heute? Sind wir Sklaven der Zeit, des Geldes, von Großkonzernen und demnächst der KI geworden? Haben wir eine „nicht artgerechte Menschenhaltung?“
Ein Plädoyer für ein „Miteinander und Kooperation“ im Alltag.
Wir haben in unserer Gesellschaft nicht nur in uns das Miteinander verloren, sondern auch das Miteinander mit den Anderen, mit der Natur und der Erde.
In vielen Bereichen ist das Leben geprägt von Konkurrenz, Gewinnoptimierung, Machtgewinn und Haben statt Sein. Wir finden darin weder unseren Platz noch unsere Zugehörigkeit. Stattdessen machen wir uns die Erde untertan und beuten sie aus. Dabei werden im Sinne von Wachstum um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste sämtliche natürlichen Ressourcen verbraucht.
Ich beobachte eine zunehmende Gleichschaltung in den menschlichen Lebensprozessen, innerhalb derer dem Menschen immer mehr die Rolle einer Funktionseinheit zugemutet wird- als wäre dies der Versuch einer „Monokultur“ für Menschen. Bei Pflanzen und Tieren ist diese Entwicklung ja bereits fortgeschritten. Auch die Medizin scheint häufig bei der Anpassung an ungesunde Lebensweisen beteiligt zu sein. Sich die Zeit für den Patienten zu nehmen ist immer schwieriger geworden.
Wir haben ein Krankheitswesen und kein Gesundheitswesen. Was ist das für ein Gedankengut?
Das Wunderbare ist, dass der Mensch in seiner Variabilität und Verschiedenartigkeit, wie auch seinem natürlichen Lebenswillen für eine „Monokultur“ und Gleichschaltung vollkommen ungeeignet ist und sich trotz aller Versuche immer wieder dem widersetzen wird.
Im Nachfolgenden einige Anmerkungen zu diesem komplexen Thema, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben:
In den frühen matriarchalen Kulturen war ein Grundgedanke das Miteinander. Alles war von einer Immanenz durchdrungen und dem Respekt davor, dass es etwas gibt, das alles miteinander verbindet. Hierzu zitiere ich folgenden Ansatz, der bei den Shipibo Indianern zu finden ist: Dort wird Krankheit nicht als das individuelle Schicksal eines Menschen, sondern als Ausdruck eines Problems der Gemeinschaft betrachtet. Alle aus dem Verbund fühlen sich verantwortlich, wenn ein Mitglied krank ist. Es wird nicht als ein persönliches Problem wahrgenommen. In unserer Gesellschaft ist es anders. Häufig wird alles seziert und einzeln betrachtet – das Gemeinsame wird selten gesucht.
Mit Beginn der patriarchalen Denkstruktur verschwand im Laufe der Zeit die Haltung einer gemeinschaftlichen Wahrnehmung und gipfelte letztendlich in dem Gedanken „es kann nur einen geben“. Ich nenne es gerne das „Highlander-Syndrom. Neue Konzepte wie „Ratio über Irrationalität“, „Ich denke, also bin ich“ wie auch Darwins These haben mehr und mehr Einfluss gewonnen. Es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem Darwins Gedanke „der Kampf des Stärkeren“ ohne Einfluss geblieben wäre. Diese Aussage wirkt bedingt konstruktiv, zumal die Evolution, auch die der Menschen, grundsätzlich auf Kooperation beruht. Selbstverständlich gibt es auch den Kampf, allerdings ist er nicht die Hauptmaxime unserer Weiterentwicklung und auch nicht in der gesamten Evolution. In Verbindung damit, entstand unter anderem die Vorstellung, dass die Macht den wenigen „Stärkeren“ gleich Mächtigeren gehört, und dies zulasten des Gemeinwohls. Eine verheerende Wirkung.
Eines Tages erhob sich der Mensch und begann sich die Erde untertan zu machen. Die zivilisatorische Entwicklung nahm im Laufe der Jahrhunderte Fahrt auf. Besonders während der letzten hundert Jahre hat sich das Antlitz der Erde derartig massiv und nachhaltig verändert, wie nie zuvor und beschleunigt sich stetig. Heute können wir uns ein Leben ohne ein Navigationssystem, ein Smartphone und Social Media nicht mehr vorstellen. Ohne, dass wir es bemerkt haben, sind wir abhängig und süchtig danach geworden. Die Erinnerung an eine Zeit davor hat sich scheinbar verflüchtigt. Rastlos eilen wir durch die Zeit und sind in einer modernen Form der Sklaverei angekommen. Ich nenne dies eine „nicht artgerechte Menschenhaltung.“
Natürlich können wir in unserer Entwicklung nicht zurückgehen. Dafür, wie wir in einer guten Weise weiter vorwärts leben, haben wir noch keine nachhaltigen Lösungen entwickelt. Oftmals finden wir dann erst Lösungen, wenn „das Kind gründlich in den Brunnen gefallen ist“. Entwicklung und Fortschritt sind eng miteinander verwoben. Beide haben im Rahmen der Polarität positive wie auch negative Aspekte
Ungeachtet dessen liegen die Lösungen in uns und nicht im Äußeren.
Das Zitat von Rumi ist hier wegweisend:
„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns.“
Lösungen auf der gleichen Ebene, auf der ein Problem entstanden ist, zu suchen, führt nur zu kurzfristigen scheinbaren Lösungen und verstärkt die Situation eher. Deshalb bedarf es eines radikalen Wechsels unseres Blickwinkels, wie auch das Treffen von Entscheidungen und Handlungen, die im Sinne des Gemeinwohls sind, damit ein menschenwürdiges Leben für alle möglich wird. Wir sind aufgefordert unsere Komfortzone zu verlassen und jegliche Form von Egoismus hinter uns zu lassen. Das Leitmotiv der afrikanischen Ubuntu Philosophie lautet:
„Ich bin, weil wir sind.“ Dieses Wir beinhaltet die gesamte Menschheit, die belebte und unbelebte Natur und die Erde. Haben wir hierfür eine Vision? Was benötigt die Menschheit um zueinander zu finden und nach echten Lösungen zu suchen? Dabei gibt es immer zu bedenken, dass eine auf Angst basierende erzwungene Veränderungen nicht zielführend sind.
Das Bewusstsein für unser Sein und unser Leben scheint sich zunehmend zu polarisieren. Auf der einen Seite stehen Menschen, die darauf hinweisen und sich für Schutz, Kooperation und ein Miteinander einsetzen. Auf der anderen Seite befinden sich jene, die dem Konsum und wirtschaftlichem Wachstum, sowie Fortschritt um jeden Preis anhängen, gleichgültig, ob dadurch die Ressourcen der Erde restlos verbraucht werden. Letzteres bedingt, dass nur einige Wenige die Vorteile genießen und die Masse dabei verliert. Es ist eine Spaltung im Großen wie im Kleinen, die sich vermeintlich unscheinbar vollzieht. Sie ist eine Abspaltung von uns selbst, unserem Menschsein, vom Leben und von der Natur. Wir sind dabei zunehmend in eine Schieflage zu geraten, was sich unter anderem darin zeigt, dass selbst die Kunst als Ausdruck unseres Innersten nicht mehr frei ist.
Viele Menschen sind nicht nur von sich selbst, sondern auch vom Leben und der Natur getrennt. Möglicherweise sind sie dabei, sich zu Funktionseinheiten und Erwartungserfüllungsanstalten zu wandeln, während der Mensch in seiner Ganzheit und Komplexität verloren geht. Die Folge ist eine zunehmende Vereinsamung und Isolation. Die Angst greift um sich und viele rennen einer Selbstoptimierung, einer gesunden Lebensweise und -ernährung hinterher, alles, um neuen Werten zu entsprechen und um eine Zugehörigkeit zu finden. Der Perfektionismus- und Optimierungswahn greift um sich, der zu einer Vereinheitlichung führen und zum Verlust der Individualität führen kann.
Auch dient unsere Medizin der Big Pharma eher einer Anpassung an ungesunde Lebensweisen. Konsumieren wir mittlerweile auch die Medizin, ihre Untersuchungsmethoden und Medikamente- ohne dies zu bemerken? Der Mensch verkommt zu einem Ersatzteillager. Insgesamt ist festzustellen, dass der seelische Mangel immer größer wird und die Sinnentleerung sich zunehmend synchronisiert. Dies steht im Zusammenhang mit der zunehmenden Technisierung und Digitalisierung und führt zu einer nicht artgerechten Menschenhaltung.
Dieser Prozess in der Menschheitsentwicklung geht mit einer zunehmenden Umweltzerstörung und -vergiftung einher, was dazu führt, dass wir in unseren Lebensmitteln, in der Luft und im Wasser vielfache Schadstoffe finden. Des Weiteren ist neben der Reizüberflutung eine Verunreinigung durch Lärm, Licht und Elektrosmog gegeben. Der Mensch hat kaum mehr die Zeit, um sich auf sich selbst zurückzubesinnen, Dinge durch zu empfinden und einfach zu sein.
Alles, das sichtbar ist, ist für uns real. Alles, was nicht sichtbar, nicht anfassbar, nicht äußerlich wahrnehmbar ist, verursacht Unsicherheit in uns. Es ist ein Nährboden für angstbasierende Gedanken. Als Beispiel sei die Angst vor Viren, Krankheit, Krieg, Katastrophen (echte oder erdachte) angeführt. Der Mensch wird durch Ängste manipulierbar und (die Herde Mensch wird) geordnet steuerbar. Was bedeuten in diesem Zusammenhang Gesundheit, Frieden und Freiheit?
Wenn ich hier den Reichtum mehre, vermehrt sich oft der Mangel und die Zerstörung an anderer Stelle, vor allem, wenn es sich aufgrund der Gewinnmaximierung um Billiglohnländer handelt. Das Gesetz vom komparativen Kostenvorteil in der Volkswirtschaftslehre besagt, dass jedes Land das herstellen sollte, was es am besten kann. Wenn dieses Land noch dazu weniger Aufwand für die Herstellung eines Produkts benötigt als ein Anderes, kann daraus ein Handel zum gegenseitigen Nutzen entstehen. Beide Länder können dadurch ihren Wohlstand vergrößern. Dies gilt freilich nur dann, wenn die Menschen und die Umwelt nicht darunter leiden.
Das irdische Leben ist ein zerbrechliches und endliches Leben, was wir gerne ausblenden. Das Gleiche gilt auch für die Natur, die Erde und ihre endlichen Ressourcen. Alles ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Das Leben in diesem schwindelerregenden Tempo hat Konsequenzen und führt uns immer mehr von uns weg. Wir sind vielfach gefangen in einem Selbstoptimierungs- und Erfolgswahn. Daraus resultiert unter anderem eine Sinnlosigkeit. Unsere Sehnsucht nach dem Glück treibt uns an. Wir möchten gerne etwas Besonderes sein. Die Reaktion auf die Erwartungen an uns selbst oder das Bedürfnis gesellschaftliche Erwartungen oder die aus unserer Umgebung zu erfüllen, ist sehr unterschiedlich. Diese zu erfüllen ist vielfach eine große Herausforderung und kaum zu erfüllen. Nur zu leicht vergessen wir in diesem Prozess, dass unser Leben, wie auch das Leben an sich, unsere Gesundheit und unsere natürlich gegebene Symbiose mit der Erde ein fragiles und kostbares Gut ist.
Ist dies das Leben, was wir führen wollen?
Was wäre, wenn wir unserer Endlichkeit wieder einen selbstverständlichen Platz in unserem Leben einräumen? Welche Chance gibt es in unserer Welt für eine gesunde Entwicklung des menschlichen Seins? Und dies auch für unsere Kinder? Gibt es noch den Raum für eine gesunde Entwicklung der Sinne, der Fein- und Grobmotorik, der Gehirnentwicklung und einer gesunden psychisch- seelischen Entwicklung? Wir sind nicht nur zunehmend von uns und dem gesunden Menschenverstand getrennt, sondern auch von den Erdteilen, die unter den Folgen unserer Lebensweise leiden.
Unser Leben in der Polarität bedeutet immerwährende Entwicklung. Es bedeutet auch das permanente Treffen von Entscheidungen. Leben ist Entwicklung und Bewegung. Wir entscheiden bewusst oder unbewusst, wohin die Reise geht, was uns antreibt und was wir erreichen wollen, wer oder was wir in diesem Leben sein wollen und wohin wir uns entwickeln wollen. Wie entscheiden wir uns und handeln wir auch entsprechend?
Wenn wir aufhören zu kämpfen, mit uns selbst in Verbindung sind und zu uns selbst ja sagen können, umso leichter können wir uns dem Lebensweg zuwenden und konstruktive Lösungen finden.
Laut Charly Chaplin stehen an den Scheidewegen des Lebens keine Wegweiser. Für wahr.
Jeder Einzelne entscheidet, wie er die Welt und sich selbst wahrnimmt und welche Werte sein Leben bestimmen. Unsere Wahrnehmung ist unsere Wahl. Der Beginn für etwas Neues beginnt immer mit einer Entscheidung und danach folgt die Handlung.
Abschließend sei die Frage erlaubt, welcher Gedanke oder Impuls gibt den Startschuss für eine neue Vision? Für einen Sinneswandel im Menschsein, so dass wir uns respektvoll und wertschätzend als Menschen in einem Miteinander begegnen.
Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankelmut Wandelmut wird, wo aus Eigensinn Gemeinsinn, aus Leid Mitgefühl, aus Hartherzigkeit Barmherzigkeit, aus Vergeltung Vergebung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft Partnerschaft und aus dem Geschöpf das Mitgeschöpf wird – da wird aus dem Menschen ein Mitmensch.
(Friedrich Schorlemmer)
Original : ..-, aus Leid Mitleid, ....