Wo bleibt der Mensch in unserer Welt?

von Dr. rer. nat. Marlies Koel

Anmerkungen zu unserer Zeit des Wandels.

Auf Unternehmensebene regieren Angebot und Nachfrage. Es werden Informationen gesammelt, Strategien, Zielvorgaben entwickelt, Pläne gemacht, um auf die Unwägbarkeiten des Marktes eingestellt zu sein – den möglichen Gewinn fest Blick. Des Weiteren übt die Wirtschaft einen enormen Einfluss auf die Politik aus. Wachstum und Erfolg um jeden Preis ist in unserer Gesellschaft die Maxime unter dem Deckmantel, dass es das Leben der Menschen erleichtert und mehr Freiheit bringt. Dabei treibt die Profitgier den Verbrauch der endlichen Ressourcen an. Es nährt eine unbewusste Angst, dass wir nicht genug haben könnten. Auch wird der Mensch vielfach auf seinen Nutzen und auf die Materie reduziert. Welchen Wert hat der Mensch als Produktionsein- heit und Arbeitskraft, auch als Ersatzteillager? Die Gewinnoptimierung bedingt wohl auch, dass der Mensch als Ware gesehen und hinsichtlich seines Nutzens bewertet wird. Entspricht dies dem Menschen?

Soll der Mensch eine Funktionseinheit und Erwartungserfüllungsanstalt werden?

Braucht es nur noch Funktionseinheiten, sprich Kopien und keine Originale, sprich Individuen, mehr? Die unternehmerischen Einflüsse, allen voran der Global Players, auf unsere Kultur, unsere Menschlichkeit, unsere Natur ist nicht zu unter- schätzen. Der Selbstoptimierungswahn scheint dies zu befeuern. Er führt allerdings zu einem zunehmen- den Verlust von uns selbst: etwas sein zu wollen, was wir nicht sind und eine stetige Unsicherheit – bis zur Angst hin nicht gut genug zu sein. Soll der Mensch eine Funktionseinheit werden, am besten genormt und möglichst ohne soziale Kontakte?

Um dann weltweit in zertifizierten einheitlichen Ar- beitsabläufen einsetzbar zu sein? Plakativ beschreibe ich dies gerne als „nicht artgerechte Menschenhal- tung“ und als eine Monokultur des Menschen. Dient uns das wirklich?

Aus meiner Beobachtung heraus kam mit der Glo- balisierung auch die zunehmende Effizienz, noch mehr Gewinn und Profitgier, mehr Selbstoptimierung und Perfektionismus usw. Allerdings könnte unsere Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittsgläubigkeit uns unsere Menschlichkeit kosten. Was wollen wir? Wollen wir unser Menschsein entwickeln oder wollen wir optimierte Funktionseinheiten und Erwartungs- erfüllungsanstalten sein? Die Profitgier frisst nicht nur ihre Kinder, sondern auch die Mutter Erde.

Bei der Profitgier einiger weniger wird vergessen, dass wir alle in einem Boot sitzen und wir nur diese eine Erde haben. Auch gilt es zu bedenken: Ver- größert sich der Profit an einer Stelle, vergrößert sich der Mangel an anderer Stelle und damit auch die Ausbeutung.
Wie ist in unserer westlichen Welt die Profitgier und damit die Ausbeutung von Ressourcen und die Zer- störung der Erde mit unserer christlichen Religion und Wertekanon in Übereinstimmung zu bringen?

Alles ist auf Wachstum ausgerichtet und dies geht nicht nur zulasten der menschlichen Kultur. Die Firmenkultur, v.a. bei den Global Players, entwickelt sich immer häufiger negativ, da nur auf den Profit geschaut wird. Dabei vergessen wir nicht nur, dass wir am Ende unserer Tage nichts mitnehmen können, sondern wir verlieren auch uns selbst. Ängste, Er- schöpfung und Sinnlosigkeit nehmen zu.

Haben die menschlichen Bedürfnisse noch einen Platz?

Die menschlichen Bedürfnisse der Wertschätzung und der Sicherheit des Platzes, der Zugehörigkeit, sind elementar neben anderen. Vor allem das tiefe Bedürfnis nach der Sicherheit des Platzes ist nicht kompensierbar. Diese beiden Bedürfnisse motivieren mehr als Geld. In unserem Mail- und Chatzeitalter und der zunehmenden Digitalisierung mögen die Arbeitsprozesse schneller geworden sein, doch entsteht dadurch schnell eine menschliche Distanziertheit und Entfremdung. Das Miteinander, was unabdingbar und grundsätzlich für ein erfolgreiches Leben und auch für ein Unternehmen notwendig ist, ist in Gefahr.

Leben bedeutet stetige Veränderung und die Evolution ist langsam?

Und wir? Wir werden vom Wandel der Zeit überrollt und sind den schnellen Veränderungen nicht gewachsen. Es ist eine immer größer werdende Herausforderung diesem Wandel mit Leichtigkeit und Kreativität zu begegnen – ohne uns zu verlieren, ohne uns in Ängste zu verlieren. Es braucht Zuversicht und Ver- trauen sich dem zu stellen.

Ist unsere Gesundheit grundsätzlich in Gefahr?

Unsere Gesundheit leidet immer mehr und das Lieblingswort „Stress“ ist in aller Munde neben der zunehmenden Diagnose „Burnout“. Ein spannendes Phänomen ist, dass wir mit Begei- sterung unsere Autos zur Wartung bringen, unsere Geräte und Maschinen updaten – nur wir uns selbst nicht. Wie kann der Mensch seelisch mit all diesen schneller voranschreitenden Veränderungen umgehen und sie meistern? Die Evolution ist ein stetiger, langsamer Prozess und wir legen immer mehr an Veränderungsgeschwindigkeit zu: immer schneller, höher und weiter. Das Leben kann sich dem nicht in der gleichen Geschwindigkeit anpassen.

Konsequenzen des Nicht-Verstehens: von Kontakt- abbruch bis zum Krieg

Das Nicht-Verstehen des Gegenübers in seiner Bedürfnislage führt in allen Lebensbereichen zu Dissonanzen: im Privatleben, der Arbeitswelt, den Führungspositionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Massive Konsequenzen sind möglich von Kontaktabbruch bis hin zum Krieg. Wie in allen an- deren Lebensbereichen und Ebenen auch, geht es letztendlich immer um eine spezifische Bedürfnis- lage und dessen Befriedigung. Inwieweit ist uns be- wusst, dass Algorithmen und einige wenige Menschen mit all ihren spezifischen persönlichen Mängeln und Bedürfnissen unsere Wirtschaft, Politik und Leben bestimmen? Welche Erwartungen und Fähigkeiten haben wir an Führungskräften? Welche Ethik und welches Werteverständnis wäre für Führungskräfte sinnvoll?

Profit um jeden Preis?

Der Mensch ist zum Sklaven der Zeit und des Gel- des geworden. Er wird zur Ressource von Arbeits- leistungen und selbst seine Organe haben einen Wert und werden in der Medizin gehandelt. Der Verlust der Kultur, der Menschlichkeit wird billigend in Kauf genommen. Der Profit steht im Vordergrund. Der Raubbau am Menschen und der Erde schreitet immer schneller voran. Die Profit- gier stört die Lebensprozesse und Lebensabläufe. Das Leben basiert auf Vielfalt und Variabilität, im Miteinander und Füreinander. Es ist nicht zu ver- stehen, welch ein wirtschaftlicher Missbrauch an der Erde, ihrer Güter und an den Menschen verübt wird. Die Gier einiger weniger, die auch ein Teil des Ganzen sind, geht zulasten anderer. Die Entwicklung © Dr. rer. nat Marlies Koel 2 in Wissenschaft und Technik wird zum Teil hierfür nachteilig genutzt und missbraucht.

Besteht unsere Wirklichkeit nur aus der Rationalität?

Unsere von Wissenschaft und Rationalität geprägte Wirtschaft und Gesellschaft erzieht uns dazu, unsere Aufmerksamkeit auf die physische und materielle Welt um uns herum zu richten. Damit hat der Mensch großartige Erfolge geschaffen und erschaffen. Doch wo ist und bleibt der Mensch? Sind wir noch ein Teil des Ganzen? Die Menschheitskultur als Ganzes ist eine sehr zer- brechliche Errungenschaft, die stets in Gefahr ist, Opfer zügelloser und zersetzender Kräfte zu werden. Der Mensch begeht Raubbau an sich und ist in den Industrienationen jederzeit bereit, seine Gesundheit dem Erfolg zu opfern. Diese fragwürdige Denk- und Handlungsweise breitet sich aus wie eine anstecken- de Krankheit. Da beim wirtschaftlichen Erfolg oft etwas Wesentliches – nämlich der Mensch in seiner Gesamtheit – vergessen wird, kann der Erfolg unbe- friedigend werden. Eine unbestimmte innere Leere und Mangel können entstehen, was dazu führt, dass wir immer mehr und mehr wollen, um den Mangel scheinbar zu kompensieren. Dabei ist es für unsere Gesundheit so wichtig, die Kultur des Menschlichen wieder zu entdecken und uns als Seele-Geist-Körper- System zu begreifen. Es geht nicht darum, nur zu funktionieren und leistungsfähig zu sein, sondern auch darum, unsere seelische, psychische und men- tale Gesundheit mit einzubeziehen. Unsere Gesundheit und auch unsere Leistungs- fähigkeit hängen weder vom Alter noch von unserer Rationalität ab, sondern in erster Linie von unserer seelisch psychischen Gesundheit. Es ist wichtig, gerade der seelisch-psychischen und mentalen Ge- sundheit mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu begegnen, denn daraus beziehen wir unsere Kraft, Kreativität und Freude an unserer Leistungsfähigkeit. Nicht nur wir Menschen sind ein lebendiger Orga- nismus, wir können sowohl die Erde als auch die Wirtschaft als einen Organismus betrachten. Ein lebendiges Wesen, welches viel Aufmerksamkeit, Umsicht und Vorausschau bedarf. Es hat auch einen Stoffwechsel: Zufuhr, Aufbau, Abbau, Umbau und Abgabe sowie eine permanente Anpassung an ver- änderte Umweltbedingungen. Wie in einem Körper braucht es eine hervorragende Steuerung und Regel- kreise, die flexibel, schnell und effizient auf Umwelt- veränderungen reagieren. Leben gedeiht nur im Miteinander, im Miteinander mit Geist-Körper-Seele, mit anderen, mit der Natur und mit der Erde. Die Entscheidungen, die gefällt werden, sind zu durchdenken und dies auch unter Einbeziehung der Auswirkungen nicht nur auf nach- folgende Generationen, sondern auch für die Natio- nen, die für unseren Profit ausgebeutet werden.

Wer versteht wirklich den ewigen Wachstums- wahn und Wachstumszwang?

Wir können mit der Erde in Kooperation, im Mit- einander sein oder sie zerstören. Unsere Entschei- dungen bestimmen jetzt wie unsere Zukunft und die Zukunft der Erde sein wird. Wer versteht wirklich den ewigen Wachstumswahn und Wachstumszwang, die Profitgier, sowie den Machthunger einiger we- nige, dem letztendlich der Mensch, die Natur und die Erde zum Opfer fällt? Welche wahre Motivation treibt diese Menschen an?

Es scheint entweder noch nicht verstanden, viel- leicht vergessen worden zu sein oder möglicher- weise im Rahmen der zunehmenden Effizienz und den globalen genormten Arbeitsabläufen nur noch von geringer Bedeutung zu sein. Unsere Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittsgläubigkeit, welche der Motor unserer Wirtschaft ist, könnte uns unsere Menschlichkeit und unser Leben kosten.

Auch ermöglicht die zunehmende Digitalisierung neue Machtverhältnisse. Vollkommen neue Möglich- keiten der Kontrolle und Macht sind gegeben und alles nur um uns ein scheinbar sicheres Leben zu ermöglichen. Nicht nur eine Entfremdung des Menschen von sich selbst findet statt, sondern auch vom Leben und der Natur. Ablenkungsstrategien werden entwickelt, sowie Erschöpfungssymptome, neben Ängsten und anderen negativen Auswirkungen wer- den zu einem gängigen Phänomen.

Unbewusst und auch zunehmend bewusst scheint dies den Einzelnen immer mehr zu beschäftigen und Gegenbewegungen entstehen. Doch diverse Angst- szenarien ermöglichen einen weiteren Ausbau des negativen Trends. Und doch wird alles, was einen Anfang hat, irgendwann auch ein Ende haben. Durch unvorhergesehene Ereignisse, welcher Art auch immer, kann alles plötzlich ganz anders sein. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit und Kon- trolle und ein Rest an Nicht-Verstehen wird immer bestehen bleiben.

„Will ich ein Mensch sein oder eine optimierte Funktionseinheit?“

Jeder Einzelne kann sich nur selbst die Frage beant- worten, entsprechend entscheiden und handeln. In diesem schnellen Wandel entscheidet unser eigenes Verhalten nicht nur über unser Leben, sondern auch über das Schicksal zukünftiger Generationen und das der Erde. Wie wirksam sind wir in unserer Fähig- keit, Beständiges und Nachhaltiges zu gestalten und zu erschaffen? Wo bleibt der Mensch in seiner Ge- samtheit und Menschlichkeit? Werden wir zu Kopien und verlieren unsere Originalität?

Was wäre, wenn wir uns auch in diesem Bereich dem Miteinander und Füreinander zuwenden und uns von Konkurrenzgedanken, ewigen Wachstum und Gier abwenden?

Arbeiten Sie oder sind Sie beschäftigt? Was bedeutet Fülle für Sie?Sehen Sie die Welt eher materialistisch rational oder anders?

Was wäre, wenn die Wirtschaft aufhört für ihren Profit die endlichen Ressourcen der Erde zu verbrauchen und stattdessen echte Lösungen zum Wohle aller kreiert?

Was sagen Sie dazu: Zentralisierung schafft Mono- kultur, während Dezentralisierung Vielfalt schafft, indem den Ort-Zeit-Mensch Konstellationen Rech- nung getragen wird und das Gesamtsystem dadurch resilienter wird.

Wir haben immer eine Wahl und die Möglichkeit neu zu entscheiden.

Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie keine Angst vor irgendwelchen Konsequenzen haben müssten? Möchten Sie in Ihrer Eigenverantwortlichkeit und Freiheit leben oder lieber als genormter Mensch?

Zum Abschluss ein Zitat von Edward Young von 1760: „We are all born originals – why is it so many of us die copies“. Also: „Wir alle sind als Originale geboren – warum geschieht es, dass so viele als Kopien sterben?“

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