Bewertungen und Konzepte
by Dr. rer. nat. Marlies Koel
Wir leben in einer Welt der Polarität, und nehmen daher vieles aus einem vergleichenden Prinzip heraus wahr. Wenn wir uns zum Beispiel zwei Kleinkinder ansehen: eines ist kurz davor das Gehen zu lernen und das Andere läuft bereits. So wird letzteres in der Regel, wenn es bereits sprechen kann auf das krabbelnde Baby zeigen und „Baby“ sagen. Es unterscheidet sich vom Baby.
Wir leben in einer polaren Welt und wurden von dieser geprägt. Es bedeutet, dass wir uns stets im Vergleich zu etwas erleben. Wir leben in Bezug auf etwas, sozusagen in einem Bezugssystem. Dies hat zur Konsequenz, dass wir das Urteilen und Bewerten erlernt haben. Es geschieht einmal mehr und einmal weniger, wir interpretieren und bilden uns dann eine Meinung. Unbewusst haben wir uns früh entschieden, mit welchem Blickwinkel wir uns in dem Bezugssystem bewegen. Entsprechend gibt es viele Möglichkeiten, Wahrheiten und Weltbilder. Unsere Wahrnehmung wie wir die Welt sehen, ist unsere Wahl. Wir können uns dessen nur bewusst werden und lernen konstruktiv damit umzugehen. Das Gute ist, wir können jederzeit neu wählen und entscheiden. Es gibt viele Chancen und viele Möglichkeiten.
Meine Bewertungen halten mich davon ab, alles anzunehmen was möglich ist. Unser Blickwinkel wie wir die Welt sehen - „Das Glas ist halb voll oder leer“- beeinflusst uns, wie wir eine Situation interpretieren und bewerten.
Ist ein Leben ohne Bewertungen möglich?
Wir können uns dessen bewusst werden und lernen achtsam damit umzugehen.
Das Gehirn bildet nicht die Wirklichkeit ab. Wir erhalten permanent aus der Umwelt Signale und Reize. Wir filtern, interpretieren und bewerten. Meist geschieht dies unbewusst. Daher wundern wir uns manchmal, wo unsere Konzepte herrühren.
Wenn Menschen nach ihren Zuordnungen bei plus und minus befragt werden, sieht dies folgendermaßen aus:
Bei Tag und Nacht wird in der Regel Tag plus und Nacht dem Minus zugeordnet. Bei Gesundheit und Krankheit wird Gesundheit dem Plus und Krankheit dem Minus zugeordnet. Bei Gut und Böse ist die Zuordnung entsprechend. Das Plus und Minus kann zunächst noch neutral betrachtet werden, spätestens ab Gut und Böse, Gesundheit und Krankheit und anderen Möglichkeiten ist die Bewertung gegeben.
Sufi Geschichte:
Ein Schüler reist zu einem neuen Meister und beschwert sich wortreich darüber, dass er schon so viele Meister besucht hat und jeder hat ihm etwas anderes als Wahrheit erzählt. Der Meister hört sich dessen Geschichte an und äußert sich nicht dazu, sondern lädt ihn zu einem Spaziergang ein. Auf diesem Spaziergang sprechen sie über Gott und die Welt, nur nicht über das was Wahrheit ist. Das was der Meister tut ist, dass er unterwegs immer wieder Menschen nach der Tageszeit fragt und erhält die entsprechenden Aussagen dazu. Als gegen Abend beide wieder an ihren Ausgangspunkt zurück kommen, fragt der Meister den Schüler ob er noch irgendwelche Fragen hätte.
Es ist immer wieder eine neue örtliche, zeitliche und menschliche Konstellation. Die Wahrheit ist ein Kontinuum, auch wenn es Grundwahrheiten gibt, die sich nicht ändern wie zum Beispiel Tag und Nacht, die Jahreszeiten, Wetterwechsel, Veränderungen. Unsere Ansichten, Werte und Normen ändern sich im Laufe der Jahre ebenfalls, genauso wie unser Geschmack oder die Freude an bestimmten Dingen. Das Leben ist ständige Veränderung und im Fluss. Das ist altbekannt. Die Aussage, dass das Leben nicht das Problem ist, sondern unser Widerstand dagegen ist eine treffende Aussage.
Viele Menschen vermeiden Veränderungen ebenso wie Kontrollverlust und Ungewissheiten. Oft gibt es den Ausspruch, es soll alles so bleiben wie es ist. Dies ist entgegen dem Lebensprinzip. Das Leben ist ständige Bewegung und in dem Bezugssystem hat jeder Mensch seinen Platz zu finden, ihn einzunehmen um zu leben und sich weiter zu entwickeln.
Wir alle kennen die Phase aus unserem Leben, in der die Eltern einfach keine Ahnung haben, und wir meinen alles besser zu wissen. Diese Sturm- und Drangphase gehört dazu. Junge Menschen bewerten und interpretieren vieles vollkommen anders, als reife Erwachsene, seien es Lehrer, Eltern oder auch andere Autoritäten. Letztere können als Wegweiser aufgefasst werden. Sie weisen uns den Weg und bewegen sich im Vergleich zu uns kaum. Zumindest erscheint uns dies so. Wir nehmen den Wegweiser und gehen daran vorbei. Entweder in die vorgegebene, die entgegengesetzte oder auch eine ganz andere Richtung. Nur im Laufe des Lebens werden wir selbst zu Wegweisern und sehen uns plötzlich in der gleichen Position wie unser vorheriger eigener Wegweiser. Wegweiser erscheinen in Relation zu den Kindern, Schülern, Lernenden eher unbeweglich. Daher werden sie von der nachfolgenden Generation als uncool gesehen und als hätten sie keine Ahnung.
Und dennoch haben Wegweiser die Möglichkeit sich selbst weiter zu entwickeln und ihr Bezugssystem zu vergrößern. Dies erfordert eine hohe Bereitschaft immer wieder jenseits der eigenen Grenzen achtsam und aufmerksam voran zu gehen: Bewertungen, Glaubenskonzepte, Sichtweisen, die eigenen Kränkungen und Konflikte zu hinterfragen und zu bearbeiten, neue Entscheidungen auf der Herzensebene zu fällen und diese entsprechend umzusetzen und danach zu handeln.
Es reicht in der Regel nicht aus, eine überholte Bewertung per Einsicht rational zu ändern, da die Bewertung eine Geschichte hat. Womit wir wieder an dem Kreuzungspunkt angekommen sind. Egal aus welcher Richtung wir das Knäul aufwickeln, wir kommen immer wieder an diesen Punkt, an dem wir die Chance haben uns für neue Möglichkeiten zu entscheiden. Die Bewertungen sind einer der Aspekte dieses Kreuzungspunktes. Zum damaligen Zeitpunkt war die Interpretation und Bewertung der Situation für uns richtig, im heutigen Kontext ist diese zu überprüfen. Ist meine Sicht der Dinge noch für mich und mein Leben dienlich? Oder ist es sinnvoll die ursächliche Geschichte zu finden mit all dem was dazu gehört, um neu zu entscheiden? Damit lädt jedes erkannte Glaubenskonzept dazu ein, die Geschichte eines abgespaltenen Anteils zu entdecken, zu adoptieren um zunehmend Ganz zu werden, indem wir uns von Neuem für den Lebenspfad entscheiden. Dies ist machbar, bedarf allerdings unseres unermüdlichen Einsatzes.
Wie erfolgreich wir damit sind, zeigt sich in herausfordernden Situationen. Falle ich in einer Stresssituation in meine alten Bewertungen, Konzepte und Verhaltensweisen zurück, na und? Wir entscheiden wie wir damit umgehen. Richtungsweisend ist, dies zu bemerken, die Geschichte aufzudecken und neu zu entscheiden.
Anbei noch einige Anmerkungen zu den Konzepten, die auf unseren Entscheidungen beruhen und häufig unbewusst sind. Offensichtlich verfügen wir über Hunderttausende von Glaubenskonzepten über uns, über andere, über die Welt im Allgemeinen und im Besonderen. Unsere Bewertungen und Entscheidungen haben in den vielen vormals erlebten und empfundenen Situationen zu den damit verbundenen Entscheidungen geführt. Manchmal lässt sich ein Lebenscredo, das heißt eine Formulierung finden, die das individuelle Lebensmuster widerspiegelt. Dies ist ein tief verankertes Glaubenskonzept, was wie in Stein gemeißelt erscheint. Es kann auch wie eine Grundprogrammierung wirken, welche wir oft verteidigen, denn sie hat unser Überleben ermöglicht und wer wäre ich ohne dieses Lebenscredo?
Die Herausforderungen und Krisen unseres Lebens sind immer wieder eine Chance und Möglichkeit uns weiter zu entwickeln. Wir dürfen entscheiden, ob wir unseren gewohnten Mustern und Gewohnheiten treu bleiben oder die Möglichkeit ergreifen, uns neu zu entscheiden und dadurch neue Räume für uns zu eröffnen.
Zum Abschluss noch ein Beispiel, welches uns nachhaltig beeinflusst hat: der Kampf des Stärkeren. Dieses Konzept hat in der Vergangenheit in all unseren Lebensbereichen Einzug gehalten – es ist zu einer gesellschaftlichen Gewohnheit geworden.
Dabei basiert Evolution in erster Instanz über Kooperation.