Bedürfnisse – wer erfüllt sie mir?

Wie können Konflikte entstehen?

von Dr. rer. nat. Marlies Koel

Im Kleinen wie im Großen entstehen Konflikte, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Unser Leben dreht sich immer um eine Bedürfniserfüllung. Wir erwarten, bewusst oder unbewusst, dass sie gestillt wird. Diese Erwartungshaltung kann zu enormen Verstrickungen, Kränkungen, Mangelempfinden und Macht- und Konkurrenzverhalten führen. Auf der einen Seite stehen diejenigen mit der Rolle der „Erwartungserfüllungsanstalten“ und „Funktionseinheiten“ und auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, welche die Erfüllung ihrer Erwartungen und Bedürfnisse einfordern.

Ob erfüllt oder unerfüllt- mit den Bedürfnissen sind immer Emotionen verknüpft. Um eine feine Wahrnehmung dafür zu entwickeln und die vielfältigen Möglichkeiten der menschlichen Empfindungswelt zu entdecken, ist es hilfreich die Wahl unserer Worte bewusst wahrzunehmen und für sich neu zu erforschen. Der Mensch ist ein Empfindungswesen. Von daher ist der direkte Zusammenhang zwischen der Sprache und unserer reichen Empfindungswelt von großer Bedeutung.

Über den Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben.

Es gibt eine Vielzahl an Bedürfnissen: auf der physischen Ebene, wie zum Beispiel Nahrung, Schutz und Schlaf, und auf der psychischer Ebene Anerkennung, Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und weitere.

Wir alle sind glücklich, wenn wir unsere Bedürfnisse befriedigt sehen, und in der Regel soll unsere Umwelt diese erfüllen. So ist unsere Prägung. Vor vielen Jahren habe ich beschrieben, dass mit der Durchtrennung der Nabelschnur unsere Bedürfnisse nicht mehr automatisch erfüllt werden. In den allermeisten Fällen haben wir ab dann etwas dafür zu tun: es bedeutet dem Kindchenschema entsprechend zu schreien, zu weinen, zu lächeln und vieles mehr. Hierüber induzieren wir alles, was benötigt wird. Auf der anderen Seite sind die Mutterinstinkte und im Normalfall funktioniert das hervorragend. Hierüber werden unsere Gewohnheiten geprägt, und so entwickelt jedes Baby seine eigene Strategie, die im Laufe der Zeit verfeinert und weiterentwickelt wird.

Als Erwachsene bleiben wir gerne bei diesem Verhalten und der entsprechenden Strategie.

Die Erwartungshaltung der Bedürfniserfüllung kann so selbstverständlich sein, dass wir sie lange Zeit nicht in Frage stellen. Es geschieht unbewusst. Oftmals sind es unsere Krisen im Erwachsenenalter, die uns die Möglichkeit für einen Perspektivenwechsel (ein „Update“) eröffnen. So gelangen wir zu der Erkenntnis, dass wir in erster Instanz für die Erfüllung unsere erkannten Bedürfnisse selbst verantwortlich sind. Dies macht uns freier und weniger manipulierbar. Manchmal jedoch sind unsere Prägungen, Gewohnheiten und Verstrickungen so stark implementiert, dass wir die Bedürfnisse anderer wie gewohnt weiterhin erfüllen. Vor Jahren prägte ich die Begriffe „Funktionseinheit“ und „Erwartungserfüllungsanstalt“, welche eine Grundlage für Abhängigkeit- Unabhängigkeit und Täter-Opfer-Dynamiken sein können.

Häufig wird von Problemen gesprochen in Form von „du bist das Problem“ oder „ich habe ein Problem mit ...“.

Probleme lassen sich vereinfacht wie folgt beschreiben:

Es versucht ein Bedürfnis zu erfüllen und ist eine unbewusste Anklage gegen jemand oder etwas.

Ein Problem führt häufig zu Kontrolle oder entsprechend dem Drang zu Unabhängigkeit, Trennung oder Rebellion.

Jedes zwischenmenschliche Problem basiert meist auf Angst, Furcht, einem Angriff oder Selbstangriff, einem Groll gegen jemanden oder Autoritätskonflikt.

Durch Formulierungen wie: „wenn du mich lieb hast, dann ...“, „du bist ein liebes Kind, wenn ...“ werden wir schon früh konditioniert. Wie reagieren wir auf solche Bedingungsaussagen? Als Kinder hören wir häufig Doppelbotschaften, die uns verwirren. Folglich beruht ein Großteil unserer emotionalen Verletzungen auf ehemals nicht erfüllten Erwartungen und Bedürfnissen.

Trotz des materiellen Wohlstands bleibt in unserer Konsumgesellschaft die Seele oft hungrig. Eine mögliche Frage ist, ob das stete Verlangen nach „mehr“ als der Schmerz oder das Symptom eines initial unbefriedigten Bedürfnisses wahrgenommen werden kann?

Unsere Verletzlichkeit aufgrund eines unerfüllten Bedürfnisses ist ein wichtiges Gut, denn sonst würden wir innerlich verhärten. Die Strategie des „Nicht-Fühlen-Wollens“ war in der Kindheit sicherlich manchmal nützlich. Jedoch im Erwachsenenalter sind wir in der Situation, unsere Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Somit können wir ein „Update“ unserer unbewussten Sichtweise durchzuführen. Verletzlichkeit bedeutet in diesem Fall nicht Schwäche, sondern sie ist die Stärke zur Veränderung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns aus einer sich verändernden, neuen Wahrnehmung heraus für einen konstruktiven Lebensweg entscheiden können.

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