Die Eltern–Kind-Beziehung als Spiegel unserer gesellschaftlichen Veränderungen
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Die Eltern-Kind-Beziehung ist ein entscheidendes Fundament, vor allem in der frühkindlichen Entwicklung. Allen voran steht die Mutter-Kind-Beziehung: Idealerweise geht es nicht nur der Mutter in der Schwangerschaft gut, sondern auch innerhalb der Familie. Geht es der Mutter gut, geht es der Familie gut. Geht es der Mutter schlecht, egal ob auf psychischer oder physischer Ebene, leidet die Familie.
Diese Beziehung beginnt bei der Konzeption. Zunächst ist die Mutter von größerer Bedeutung für das neue Leben, denn sie trägt das sich entwickelnde Kind in ihrer Schwangerschaft aus. Durch die Geburt kommt es als „physiologischer frühgeburtlicher Säugling“ in diese Welt.
Wir wissen, dass wir immer kommunizieren und dies auf unterschiedlichsten Ebenen. Von Anfang an, bereits ab der Empfängnis, findet eine Interaktion zwischen der Mutter und ihrem Kind, wie auch über die Mutter zwischen der Umwelt und dem Kind statt. Auf unbewusster
(Ebene trifft das keimende Leben von Anbeginn Entscheidungen. Diese gehen ins Zellgedächtnis über und bestimmen unsere spätere Psychosomatik und wie wir uns und die Welt wahrnehmen. Erst viel später kann das Erlebte in Worte gefasst werden. Allerdings können unsere Worte wahrscheinlich das Erlebte nicht genau so ausdrücken, wie es erlebt wurde.
Wir können die Eltern-Kind-Beziehung als eine Spiegelung unserer Gesellschaft betrachten.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten ein wachsendes Wissen und Verständnis über die Bedeutung der frühkindlichen Phasen und der Schwangerschaft gewonnen. Bezüglich der Konzeption ist dies noch sehr lückenhaft.
Wir erleben derzeit eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung: Einerseits gibt es Eltern, die alles tun, um dem beginnenden Leben einen geschützten Raum und Sicherheit zu geben und eine natürliche Entwicklung zu fördern. Wiederum andere Eltern agieren als sogenannte Helikopter-Eltern. Des Weiteren gibt es diejenigen, die ihre Babys bereits frühzeitig in eine Kita abgeben. Eine junge Mutter, die ihren 10 Wochen alten Säugling in eine Kita gegeben hatte, sagte einmal zur mir: „Schade, dass die Kita nicht bis 20 Uhr geöffnet hat“. Nicht nur, dass diese Gegensätzlichkeit Konsequenzen hat, sondern sie zeigt auch eine tiefe Spaltung in unserer Gesellschaft.
Kulturhistorisch gibt die Stellung der Frau und der Kinder einen Einblick in die Gesellschaft. Das weitreichende Wissen, über das wir bezüglich der prä-, peri- und postnatalen Phasen verfügen, wirkt sich scheinbar nur sehr bedingt aus. Die Frage. was heute kindgerecht ist und in wieweit ein Kind überhaupt noch Kind sein darf, beschäftigt nicht nur Eltern, sondern auch Psychologen und Pädagogen. Es wäre wünschenswert, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen dies im Hinblick auf unsere Gesellschaft hat. Eine Zeiterscheinung ist, dass Kinder zu einem eigenen lukrativen Geschäftszweig und einer Marke geworden sind.
Wenn die elementaren Bedürfnisse, wie die Sicherheit des Nestes, dem Platz neben den biologischen und psychischen Grundbedürfnissen nicht erfüllt werden, so hat dies Auswirkungen und Konsequenzen für das Erwachsenenalter.
Es ist ein interessantes Konzept von Eltern, dass sie dann gute Eltern sind, wenn die Kinder pflegeleicht sind. Dabei wissen wir bereits seit langem, dass gerade die pflegeleichten Kinder oft die traumatisiertesten Kinder sind.
Zu mir kam vor vielen Jahren eine Familie: Eltern mit ihren 4 Kindern in der Altersstufe von 7 bis 14 Jahren. Alle Kinder setzen sich selbstverständlich nebeneinander auf die Bank, in Reih und Glied. Ohne dass ich die Eltern etwas fragen konnte, beschwerten sie sich über das ungebührliche Verhalten ihrer Kinder. Als diese mit ihrer Litanei fertig waren, fragte ich sie, wie sich ihre Kinder außerhalb der häuslichen Gemeinschaft in neuen Situationen verhielten. Die Antwort: Vorbildlich, als wenn es nicht ihre Kinder wären. Daraufhin war mein Kommentar, dass sie gute Eltern seien. Diese Antwort gefiel den Eltern weniger, während die Kinder sich eins ins Fäustchen lachten. Es war ein herrlicher Moment. Ich erklärte den Eltern, dass ihre Kinder sich der Liebe der Eltern so sicher seien, dass sie sich trauten, sich zu Hause daneben zu benehmen, sich auszuprobieren. In einem gewissen Rahmen ist dies selbstverständlich in Ordnung, jedoch ist es kein Freibrief für die Kinder. Nur, wo haben die Kinder den Raum, um spielerisch für das Erwachsenenalter zu üben? Wir lernen als Menschen weiterhin durch Versuch und Irrtum. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Erwartungen der Eltern, was aus den Kindern werden soll.
Als ich in den 90-ern bei Hugh Milne die Ausbildung zur visionären Craniosakraltherapie absolvierte, vertrat er die Ansicht, dass Skoliose dadurch entsteht, dass die Kinder zwischen den Eltern stehen und versuchen, dies auszugleichen. Dies ist der Fall, wenn Eltern keine Einheit bilden, sondern im Konflikt sind und die Kinder nicht wissen, für welches Elternteil sie sich entscheiden sollen. Mal wenden sie sich mehr dem Vater, mal mehr der Mutter zu. Als ich später darüber nachdachte, habe ich für mich folgende These entwickelt: Wenn wir entstehen, haben wir eine Dreiheit: ein Teil Mutter, ein Teil Vater, ein Teil von uns selbst. Daraus habe ich das Bild entwickelt, dass wir durch unsere Eltern hindurchzugehen haben, um bei uns selbst anzukommen und unseren Teil, unsere Essenz, zu leben. Die Eltern stehen dafür, dass wir einen irdischen Ursprung haben. Unser wahrer Ursprung, unsere Quelle, liegt jedoch dahinter. Um uns selbst leben zu können und authentisch zu sein, ist es aus dieser Sicht notwendig, durch die Eltern hindurchzugehen. Dies bestätigt die Aussage von Khalil Gibran, dass wir „Durch unsere Eltern kommen und nicht von unseren Eltern.“
Des Weiteren haben Eltern bewusst oder unbewusst ihre Erwartungen und Hoffnungen an ihre Kinder. Dieser Druck kann von Anfang an bestehen oder sich entwickeln und aufbauen. Auch dies gehört zu unseren Anfängen, denn jedes Kind möchte für Mutter und Vater von Bedeutung sein. Wenn die Mutter in einem Überlebenskampf ist, d.h., mit Haushalt, Arbeit, Kindern, womöglich noch alleinerziehend, mit ihrer Aufmerksamkeit überall ist, nur nicht bei ihren Kindern, hat dies Konsequenzen.
Es bedeutet keinesfalls, dass die Mutter nicht berufstätig sein kann, sondern es geht um die Frage, wo sie mit ihrer Aufmerksamkeit ist. In meiner Arbeit empfahl ich äußerst gestressten Müttern, jedem Kind einmal am Tag 15 Minuten gemeinsame Zeit mit 100 %-iger Aufmerksamkeit zu schenken. Sie hatten in der kurzen Zeit keine To Do- Listen im Hinterkopf, sondern waren nur bei ihrem Kind und dessen Wünschen und Bedürfnissen. Jedoch zeigte sich immer wieder, dass es für die Mütter eine große Herausforderung war, ganz mit ihrer Aufmerksamkeit beim Kind zu bleiben, ohne im Hintergrund etwas zu planen. Es ging einzig und allein darum, das Kind zu bejahen, so dass es empfinden konnte, dass es für seine Mutter wichtig ist, gesehen und gehört wird. Nur diese 15 Minuten am Tag hatten eine äußerst positive Auswirkung auf das Miteinander von Mutter und Kind. Bei den Kindern zeigte sich sehr schnell eine Entspannung, sofern dies von der Mutter gemeistert wurde. Die Sicherheit des Raumes, des Platzes und der Aufmerksamkeit konnte sich entwickeln.
Die meisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Selbstverständlich ist die Frage berechtigt, ob die elterlichen Idealvorstellungen tatsächlich denen des Kindes gerecht werden und ob ihr Kind tatsächlich die optimale Unterstützung für seinen eigenen Weg erhält. Oft scheint im Vordergrund zu stehen, dass die kindliche Entwicklung optimal und perfekt abzulaufen hat. Zum Teil werden bereits Kindergartenkinder Intelligenztests unterzogen, um möglichst früh ein Genie oder eine Hochbegabung fördern zu können. Es ist eine große Herausforderung für Eltern, das Kind in seiner Essenz wahrzunehmen und ihm nicht die eigenen Bedürfnisse überzustülpen.
Häufig finden unbewusste Projektionen statt, nämlich dann, wenn Eltern sich ihrer Eigenverantwortlichkeit nicht bewusst sind. Einiges wird dann auf das Kind projiziert. „Du bist Schuld, dass es mir so schlecht geht“, „Wenn Du nicht gewesen wärst, dann ...“, „Wen hast Du lieber, Mama oder Papa?“ um nur einige Beispiele zu nennen. Das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, ist, sie in ihrem innersten Wesen zu erfassen. Dazu gehört, sie dort abzuholen, wo sie gerade sind, ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse zu erkennen und in ihrer eigenen Entwicklung zu bestärken.
Natürlich ist es hilfreich, wenn wir als Mutter und Eltern die eigenen Muster hinterfragen, Unbewusstes anschauen, erkennen und aufarbeiten. Kinder sind die besten Spiegel. Oftmals sind sie es, die uns das Eigene, noch Unbekannte aufzeigen. Auch hier sind wir eingeladen, hinzusehen und vor allem immer wieder uns selbst, offen, mutig und ehrlich zu begegnen. Dies kann sich beinahe selbstwirksam auf die Kinder übertragen.
Ich freue mich, Sie auf diesem Weg begleiten zu dürfen.