Die Paradiesgeschichte einmal anders Eine Anregung, um andere Möglichkeiten zu entdecken
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Wir leben in einer Polarität, die immer eine Dreiheit voraussetzt, wie ich in meinem Beitrag zur Polarität näher ausführe. Die Paradiesgeschichte, die bereits vor der Entstehung des Christentums als Metapher existierte, ist unter anderem eine Auseinandersetzung mit der Polarität auf der Erde und damit, wie das Leben in die Atome gelangte. Es geht um unseren jeweiligen individuellen Anfang. Adam und Eva symbolisieren die Polarität, die bildhaft für den Heiligen Inneren Krieg betrachtet werden kann. Dies erläutere ich näher in dem entsprechenden Artikel.
Die Welt der Polaritäten stellt sich bereits in unserem Körper dar:
rechts – links, vorne – hinten, oben – unten, innen - außen, um nur einige zu nennen. Weitere Beispiele sind: Geist und Materie, Gesundheit und Krankheit, Konzeption und Tod, anorganisch und organisch, plus und minus, positiv und negativ, schwarz und weiß, Licht und Dunkelheit etc.
Eine wissenschaftliche Fragestellung lautet: Wie kam das Leben in die Materie? Diese Frage bleibt wohl offen, weil sie auf rein wissenschaftlicher Ebene nicht beantwortet werden kann. In der Wissenschaft wird das Leben technisiert und rein materiell betrachtet, den Kommerz und die Verwertbarkeit stets im Blick. Die Materie hat in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert, und es geht darum, sie wirtschaftlich zu nutzen.
In seiner „Geschichte vom kleinen Häschen Liebe“ lässt Chuck Spezzano sein Häschen unter anderem entdecken, dass auch in dem Stein Licht ist. Genauso wie die unbelebte Natur bestehen auch wir aus Atomen.
Auch wenn die Menschen in früheren Zeiten noch nichts über Spermien und Eizellen wussten, waren ihnen die Lebensprinzipien der Polarität vollkommen vertraut. Sie hatten sich, in Anlehnung an die Paradiesgeschichte, mit der Entstehung des Menschen und seinem Hineingeborenwerden in die Welt der Materie. Schon vor 800 Jahren formulierte Rumi dies folgendermaßen: „Wir haben unseren Körper geschaffen, Zelle um Zelle haben wir ihn geschaffen.“ Selbst Buddha, er lebte im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, formulierte, dass wir mit unseren Gedanken die Welt formen.
Seit Jahrzehnten kommt in meiner Arbeit immer wieder das Thema der eigenen Empfängnis auf. In der Empfängnisübung, wie ich sie durchführen lasse, werden die verschiedenen Aspekte fühl- und erlebbar. Auch zeigt sich dabei, wie sehr wir kollektive Unbewusste von patriarchalen Denkstrukturen durchdrungen sind: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ Unsere tiefsten Lebensmuster und Psychosomatiken werden in dieser Arbeit sichtbar und spürbar. Diese Entdeckung von uns selbst und den ersten Grundmustern, die bereits unsere erste Psychosomatik bestimmen, gibt uns die Möglichkeit, diese neu zu gestalten. Dazu nutzen wir die Neuroplastizität unseres Gehirns, um unter anderem über den „Weg des Ypsilons“ neue neuronale Netzwerke anzulegen. Diese führen uns dann zu einem Leben mit einer neuen Handlungskompetenz.
Unsere Seele interagiert über Bilder und Empfindungen. Daher ist es immer wieder unsere Entscheidung, konstruktiv mit dem umzugehen, was ist oder nicht ist. Leben bedeutet auch, permanent Entscheidungen zu treffen, und wenn wir dies nicht tun, entscheidet jemand anders oder plakativ formuliert, das Leben. Es gibt immer Lösungen. Wir entscheiden, ob wir mutig neue Wege beschreiten, oder lieber bequem beim Alten bleiben, auch wenn es unangenehm ist.
Die Empfängnis ist unser irdischer Anfang. Bereits hier können wir rückwirkend beginnen, eine neue innere Ordnung in unserem Zellgedächtnis zu schaffen. Dies betrachte ich als Aufgabe, die in der ursprünglichen Paradiesgeschichte liegt.
Wir kennen die Geschichte von Adam und Eva, die als Synonym für die männliche und weibliche Seite und Energiequalität dient. Terence Dowling sieht in jeder Schwangerschaft und Geburt eine Wiederholung der Ur-Sünde und die Geburt als Trauma. Einer seiner Beiträge lautet „Der Sündenfall als Urverletzung“. Jeder Mensch wird mit einer Erbsünde geboren, die ein angst- und schuldfreies Leben verhindert und aus seiner Sicht unmöglich macht. Seine Vorstellung der Erbsünde, die jede Schwangerschaft und Geburt begleitet, kann und mag ich nicht teilen. Die Paradiesgeschichte ist wesentlich älter als das Christentum. Die Frage, auf welche Weise wir in die Materie und Polarität gelangten, erscheint mir in der individuellen Auseinandersetzung mit all den verschiedenen Aspekten vorrangig zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine These dem Ursprung des menschlichen Schöpfungsgeschehens entspricht.
Ich teile die Sicht, dass die Plazenta den Baum des Lebens symbolisiert, die Nabelschnur der Schlange entspricht und das Fruchtwasser für das Wasser des Lebens steht. In zahlreichen Mythen der Welt finden wir ähnliche Bilder. Terence Dowling scheint Adam und Eva nicht weiter zu thematisieren, wobei die Polarität aus meiner Sicht ein wichtiger Aspekt ist. Er konzentriert sich auf seine Annahme der Erbsünde, die in jeder Schwangerschaft und Geburt liegt. Alle Menschen teilen sie, da sie alle geboren werden.
Wie sähe es aus, wenn wir die erste Frau Adams mit einbeziehen würden? Beide, Adam und Lilith waren gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Es war eine echte Polarität. Da Eva, Adams zweite Frau, aus seiner Rippe entstand, wurde diese natürliche und ursprüngliche Polarität aufgehoben. Die Begegnung auf Augenhöhe war nicht mehr gegeben. In den frühen Schriften und im Talmud wird Lilith als erste Frau der Schöpfung erwähnt. In der Endredaktion der biblischen Tradition wurde die Figur der Lilith nicht übernommen.
Was hätte sich für die Menschheit verändert, wenn Lilith, und damit die ursprüngliche Polarität, erhalten geblieben wäre? Das patriarchale Gedankengut sieht die Frau nicht auf Augenhöhe. Eva ist Adam untertan und somit plakativ formuliert ein Mensch zweiter Klasse. „Macht euch die Erde untertan“ hat einen deutlich tieferen Fundus.
Einige Frauen haben mir erzählt, dass sie sich als Menschen zweiter Klasse fühlen. In einer solchen Aussage zeigt sich die unbewusste Wirkung des patriarchalen Gedankenguts, denn auch in unserer hoch entwickelten Zivilisation ist die Frau nach wie vor benachteiligt.
Möglicherweise wäre es hilfreich, dem Adam- und Eva- Konzept mehr Aufmerksamkeit zu schenken und selbiges zu hinterfragen, da es hier nicht um die eigentliche ursprüngliche echte Polarität handelt. Aus dieser Perspektive ergeben sich interessante Aspekte im Hinblick auf unsere Strukturen und unsere Weltanschauung.
Folgende Frage ist auch stellbar: Was hätte sich möglicherweise in der Menschheitsgeschichte anders entwickelt, wenn statt „Ich war es nicht, sondern die Schlange war es“, gesagt worden wäre „Ich war es“?
Das Neue und die nächste Stufe unserer Entwicklung bringt sich aus der ursprünglichen weiblichen Schöpferkraft hervor. Entwicklung vollzieht sich immer vorwärts. Für mich bedeutet dies, dass wir uns respektvoll, wertschätzend und auf Augenhöhe begegnen. Ganz im Sinne von Namaste –„Ich grüße den göttlichen Funken in dir“. Wir können uns weder in alte Strukturen zurückentwickeln, noch diese erneut aufleben lassen. Wir können nur vorwärts gehen, neue Denk- und Lebensräume entdecken und diese ausprobieren.
Was wäre, wenn wir die eigentlich ursprüngliche Polarität als wegweisend für unsere nächste Entwicklungsstufe sehen würden?
In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, die auf einer patriarchalischen Denkstruktur basiert, erleben wir jedoch vielerorts das Gegenteil, Männer und Frauen begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Die nächste Entwicklungsstufe -Next Level- wird aus der weiblichen Schöpferkraft entstehen, die geprägt ist von Gleichwertigkeit, Wertschätzung, Respekt und einem integrierten Verständnis der Polarität, die das Dritte wahrnimmt.