Scham

Eine leise Empfindung mit großer Wirkung

von Dr. rer. nat. Marlies Koel

Emotionen wie Wut, Angst, Schuld und einige andere sind „laute Empfindungen.“ Wir können sie in unserem Körper auch ganz gut orten: Sie machen sich durch Bauchschmerzen, Beklemmungen, Herzklopfen, einen Knoten im Hals oder ähnliches bemerkbar. Die Scham dagegen ist ganz leise, kaum spürbar und genau deshalb so tückisch. Sie feuert heimlich, aus dem Hinterhalt, und wird darum oft von den davon Betroffenen nicht wahrgenommen und bleibt unerkannt. Dabei können ihre Wirkungen auf unser gesamtes Leben verheerend sein, denn wir tun unbewusst alles dafür es nicht zu spüren und richten unser Leben daraufhin aus.

Als Kind haben wir uns alle schon einmal geschämt, im Kindergarten, in der Schule, in der Familie oder später im Beruf. Wir wissen, wie es sich anfühlt, „dumm“, „bloßgestellt“, „wertlos“ oder „ungeliebt“ und vielleicht sogar „verachtet“ und „ausgestoßen“ zu sein. Diese Momente prägen sich tief in unser Unterbewusstsein ein. In unserem späteren Leben tun wir alles, um uns nur ja nie wieder so zu fühlen. Interessant sind unsere Strategien um diese Empfindung zu vermeiden. Als Beispiel zwei Möglichkeiten: Manche von uns opfern sich über Gebühr auf, z.B. für die Kinder, den Partner, die Eltern ... (Hauptsache, den anderen geht es gut!), andere machen sich größer, blähen sich auf („mein Haus, mein Boot“) und stellen mehr dar, als sie sind und sein müssten. Beides sind perfekte Mechanismen, die wir als Strategie wählen, um die eigene Scham nicht zu fühlen. Bloß niemand soll merken, dass wir uns eigentlich nicht gut fühlen, (weil wir glauben) nicht in Ordnung sind (zu sein). Auch trauen sich viele Menschen nicht zu kommunizieren und dies aus Scham, weil sie sich nicht sicher fühlen.

Die Scham hat viele Gesichter:

Herr T.T. (56) ist ein typisches Beispiel für unerkannte Scham. Eigentlich müsste er ein sehr erfolgreicher Mann sein. Doch er hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder alles verloren: Je erfolgreicher die Firmen, die er aufbaute, wurden umso stärker meldete sich in ihm das (unbewusste) Gefühl: „Es darf niemand herausfinden, dass ich eigentlich dumm bin!“ Das Dummsein hatte ihm einer seiner früheren Lehrer in der Schule attestiert.  Bloßgestellt vor der ganzen Klasse befand sich Herr T.T. in einer Situation, die er nie vergessen hat. „Seitdem hielt ich mich für total unfähig, auch wenn ich sehr erfolgreich war“, erzählte er in unserem Gespräch. Das Ergebnis dieser Überzeugung, die er für „wahr“ hielt, zeigte sich deutlich in seiner existenziellen Not und seiner Partnerschaft, die kurz vor dem Aus stand. Heute kann Herr T.T. das Erlebte ganz anders einordnen. Er kann die Scham kommen und gehen lassen, wie jedes andere Gefühl und hat seine Existenz und Partnerschaft ganz neu aufgebaut.

Auch Frau AS (35) ist ein deutliches Beispiel für unbewusste Scham – hier aus der Frauenwelt, (in der die Scham genauso wütet wie bei den Vertretern des männlichen Geschlechts.)??? „Hauptsache, es ist gesund!“ ist ein Satz, der in vielen Familien flapsig dahin gesagt wird, wenn ein neues Kind auf die Welt kommt. In Wirklichkeit hätten sie sich aber doch lieber einen Jungen gewünscht. Und diese Botschaft kommt bei dem Kind an: dass es so, wie es ist, nicht in Ordnung ist. Frau AS ist selbst Mutter von drei Kindern. Sie hat ihr Leben gemeistert, immer ihren „Mann gestanden“, allerdings unter enormer Anstrengung im Privatleben wie im Beruf. „Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse viel mehr leisten als andere, damit ich gut genug bin. Damit es reicht“, erzählte sie mir. Was für ein Kraftaufwand, den ein Mensch betreibt, weil er sich seiner selbst schämt!

Dies sind exemplarische Beispiele, die ich immer wieder in meiner Arbeit erlebe. Schaue ich mit den Menschen genauer hin, ist es die Scham, die ihrem Fühlen und Handeln zu Grunde liegt. Sie wirkt wie ein Klebstoff und hindert uns daran, der Mensch zu sein, der wir wirklich sind. Und weil die Scham so leise ist, kann sie über Jahre und Jahrzehnte unerkannt ihre Wirkung entfalten. Hier gilt es die Geschichte der eigenen Scham zu entdecken.

Es ist Zeit für eine neue Zeit – eine Zeit ohne weitere negative Auswirkungen von Scham. Eine neue Zeit in echter Herzenswärme, in Nähe, Erfüllung und Erfolg.

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