Der Prozess des Entscheidens
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Wir entscheiden immer und ständig, allerdings vor allem unbewusst. Wir interpretieren, bewerten und entscheiden ständig. Man geht davon aus, dass wir bereits während der Schwangerschaft Entscheidungen treffen. Schon der Fötus reagiert bereits auf die Befindlichkeiten und Empfindungen der Mutter: Wie sie sich ernährt, wie sie mit Stress und Konflikten umgeht, wie sie auf die Umwelt reagiert. Das bedeutet, dass der Fötus über die Nabelschnur seine Grundbedürfnisse nach Nahrung, Sicherheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit erfüllt bekommt und gleichzeitig über die Mutter mit der Außenwelt interagiert und reagiert. Dementsprechend haben die Reaktionen der Mutter einen direkten Einfluss auf das entstehende Leben, den Fötus, und somit auf sein Leben und Erleben. Die Geburt ist für Mutter und Kinde eine große und prägende Herausforderung, die von vielen unbewussten Entscheidungen begleitet wird .
Die Durchtrennung der Nabelschnur ist ein weiterer sehr wichtiger Akt. Denn ab diesem Zeitpunkt ist die Versorgung der Grundbedürfnisse nicht mehr selbstverständlich. Das Neugeborene verfügt jedoch über alle Fähigkeiten, dieMutter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu animieren. Die hormonelle Umstellung der Mutter unterstützt dies. Nach der Geburt beginnt für Mutter und Kind ein neuer Lebensabschnitt, gestärkt durch die natürliche Bindung, die im Idealfall durch das Bonding von beiden intensiv erlebt wird. Mutter und Kind schwingen und stimmen sich aufeinander ein und das gemeinsame Leben beginnt.
Die folgende Geschichte mag die enge Bindung und ihre Auswirkungen veranschaulichen: Eine Mutter hält ihr Baby im Arm und beide sind in tiefer Liebe miteinander verbunden und interagieren miteinander. Plötzlich, wie aus dem Nichts, geschehen folgende Dinge gleichzeitig: Sirenen ertönen, es klingelt an der Haustür, die Müllabfuhr leert mit lautem Getöse die Mülltonnen und der Rauchmelder schlägt Alarm. Was passiert mit Mutter und Kind?
In diesem Beispiel legt die Mutter ihr Kind sicher ab und kümmert sich um alles. Dann kehrt sie liebevoll zu ihrem Baby zurück und möchte an die Situation vor dem Schrecken anknüpfen. Das Baby hat die Situation vielleicht ganz anders erlebt: Es fühlte sich von der Mutter verlassen, dem plötzlichen Schrecken allein ausgesetzt und in seiner Existenz bedroht. Vielleicht hat es Folgendes empfunden und unbewusst entschieden:
- Es hat Angst,
- es fühlt sich verloren, allein, schutzlos, hilflos, frustriert,
- es kann seiner Mutter nicht vertrauen,
- es ist auf sich allein gestellt.
Diese Entscheidungen werden unbewusst getroffen. Sie beeinflussen die Art und Weise, wie das Kind sich selbst, seine Mutter, seine Herkunft und auf die Welt sieht. Sie spiegeln die Realität des Kindes wider. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, das liebevolle Miteinander wird unterbrochen. Das Kind aktiviert einen Überlebensreflex. Aus diesem Kontext entsteht die Sichtweise des Kindes auf sich selbst, die Mutter und die Welt. Womit identifiziert sich das Kind? Im Nachhinein lässt sich oft ein Lebensmotto entdecken, welches sich durch das ganze Leben zieht, wie z.B. „Es reicht nie“, „Ich bin es nicht wert“, „Niemand sieht und hört mich“.
Offenbar wird schon sehr früh eine Grundsatzentscheidung getroffen, aus welcher Perspektive das Leben später gesehen und gelebt wird. Ist „das Glas halb voll oder halb leer“. Diese Wahrnehmung und Entscheidung scheint sich tief unbewusst zu verankern und im Zellgedächtnis zu manifestieren. Diese Grundhaltung beeinflusst dann unser ganzes Leben. Krisen, Konflikte und andere Herausforderungen des Lebens geben uns die Chance unsere Perspektive zu hinterfragen und bewusst neue Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.
Unser ganzes Leben besteht aus Entscheidungen. Wir entscheiden immer, entweder entscheide ich, oder es wird über mich entschieden. Je nachdem, wie unsere Antwort ausfällt, entscheidet sich, wie wir unser Leben leben. Ob wir einen Überlebensweg gehen oder einen Lebensweg. Die Frage ist, ob wir unser Leben als einen ständigen Kampf und Stress erleben, oder ob wir mit uns, den anderen und der Welt im Einklang sind.
Unser Leben hier auf der Erde, in der Polarität, bedeutet ständige Entwicklung und Bewegung. Wir entscheiden bewusst oder unbewusst, wohin die Reise geht, was uns antreibt und was wir erreichen wollen, wer oder was wir in diesem Leben sein wollen und wohin wir uns entwickeln wollen. Wie wir unsere Handlungskompetenz umsetzen können, hängt auch davon ab, für welchen Weg wir uns entscheiden.
Je mehr wir aufhören zu kämpfen und Ja sagen können zu dem, was ist, auch wenn es manchmal tragisch ist, desto leichter können wir uns dem Lebensweg zuwenden und uns für konstruktive Lösungen und ein glückliches Leben entscheiden, trotz aller Höhen und Tiefen, die uns das Leben bietet.