der sichere Platz
Das tiefe Bedürfnis nach einem sicheren Platz – und die Suche nach innerer Ganzheit
Liebe Leserinnen und Leser,
der Herbst ist angekommen, und mit ihm eine Zeit, in der wir uns mehr nach Rückzug und Geborgenheit sehnen. Die Natur verändert sich, die Blätter fallen, und vieles um uns herum scheint in Bewegung zu geraten. In solchen Zeiten wird der Wunsch nach einem sicheren Ort, einem festen sicheren Platz, umso präsenter. Doch was ist, wenn dieses Bedürfnis tief in uns erschwert wird – durch ein Empfinden, dass etwas Wesentliches fehlt?
Für alleingeborene Zwillinge – jene, die ihren Zwilling während, nach oder vor der Geburt verloren haben – ist dieses Gefühl von Unvollständigkeit besonders stark ausgeprägt. Die physische Wahrnehmung, dass „die Hälfte fehlt“, prägt sie ein Leben lang. Als Zwillinge waren sie Teil einer Einheit, untrennbar verbunden mit einem anderen Leben. Doch plötzlich fehlt diese Hälfte, und die Selbstwahrnehmung ist von Grund auf verändert. Dies kommt aus meiner Erfahrung dem Verlust der Einheit am nächsten.
Dieses Gefühl des Verlusts hat einen tiefen Einfluss auf die Entwicklung des „Ich“ und des „Du“. Während sich bei den meisten Kindern die Wahrnehmung der eigenen Identität allmählich herausbildet, wird diese bei alleingeborenen Zwillingen häufig von der Erinnerung an das, was fehlt, überschattet. Der Verlust eines Zwillings ist nicht nur ein emotionales, sondern auch ein physisches Trauma, welches im Zellgedächtnis gespeichert ist und sich auch auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung auswirkt.
Diese innere Zerrissenheit zeigt sich besonders in Situationen, in denen es darum geht, einen sicheren Platz im Leben zu finden. Der Verlust des Zwillings wird oft unbewusst kompensiert – durch übermäßige Anpassung, das Streben nach Perfektion oder den Versuch, für andere unentbehrlich zu sein oder auch in einer Partnerschaft. Der Drang, sich anzupassen und dazu zu gehören, führt jedoch oft dazu, dass die eigenen Bedürfnisse hinten anstehen. Man sagt zu oft „Ja“ zu den Erwartungen der anderen und viel zu selten „Ja“ zu sich selbst.
Dieses Dilemma verstärkt sich durch die veränderte Selbstwahrnehmung: Alleingeborene Zwillinge haben oft das Gefühl, nicht vollständig zu sein, als wären sie nur „halb“ anwesend. Dies beeinflusst nicht nur die Art und Weise, wie sie auf Krisen, Konflikte und Herausforderungen im späteren Leben reagieren, sondern auch ihre Fähigkeit, sich selbst einen sicheren Platz im Leben zu schaffen. Die Selbstverständlichkeit des Seins ist nicht gegeben.
Die während des Verlustes entstandenen Empfindungen und tief unbewussten Entscheidungen werden im Zellgedächtnis abgespeichert. Es gibt noch kein Ich und Du, diese Abgrenzung entwickelt sich erst in den ersten Lebensjahren. Des Weiteren besteht keine Zeit – es ist alles im ewigen Jetzt. Alle unbewussten Entscheidungen sind in der Ewigkeit abgelegt. Denn ein zunehmend sicheres Zeitempfinden entwickelt sich erst zwischen dem 5. Und 10. Lebensjahr.
Dieser Verlust begleitet das Leben des alleingeborenen Zwillings, das Selbstwertgefühl ist stark beeinträchtigt und dies wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, unter anderem auf die Beziehungsfähigkeit. Das unbewusste Streben nach Vollständigkeit äußert sich auch in der Suche nach einem sicheren Platz, der gefühlt nicht erreichbar scheint.
Daher ist es in der Arbeit mit alleingeborenen Zwillingen so wichtig, diesen Verlust anzuerkennen und zu integrieren. Es gehört in dessen Lebensbiographie. Denn erst, wenn das Fehlen des Zwillings bewusst in das eigene Leben eingebunden wird, kann Heilung beginnen. Der Prozess der Selbstakzeptanz, das Anerkennen der eigenen Ganzheit trotz des Verlustes, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem sicheren Platz in der Welt. Das Paradoxon, ganz und doch nicht ganz, ist zu lösen.
Was können wir also tun, wenn wir uns selbst in einer solchen Situation wiederfinden – in dem Gefühl, „halb“ zu sein? Es beginnt mit der Selbstannahme, dem Erkennen und Benennen des eigenen Schmerzes. Nur so können wir lernen, uns den Raum zu geben, den wir brauchen, und uns nicht mehr ausschließlich an den Erwartungen anderer zu orientieren. Der Herbst, mit seiner ruhigen und introspektiven Energie, bietet eine wunderbare Gelegenheit, in uns hineinzuhorchen und zu spüren, wo wir unseren sicheren Platz in uns finden können.
Lasst uns diese Jahreszeit als Chance nutzen, uns selbst einen festen Platz zu geben – in uns selbst und in der Welt. Auch wenn manchmal das Gefühl bleibt, dass etwas fehlt, so sind wir doch vollständig, so wie wir sind.
Herzliche Grüße,
Marlies
Ps.
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