Von der Bürde, ein optimiertes-optimales ICH zu sein
von Dr. rer. nat. Marlies Koel
Einige Gedanken, Beobachtungen und Erfahrungen aus meiner Arbeit zu dem immerwährenden Druck, dem wir alle ausgesetzt sind. Das Ziel meiner Tätigkeit ist es, den Menschen Unterstützung zu geben, um der Mensch zu werden und zu sein, der sie sind.
Der Druck in unserer technisierten, digitalisierten und von Social Media geprägten Welt steigt und steigt. Unbewussten Ängste, die auch durch die künstliche Intelligenz geschürt werden, erhöhen die Unsicherheit und Anspannung. Gibt es noch einen sicheren Platz, Arbeitsplatz etc.? Der Erwartungsdruck von außen, sei es durch Eltern, Freunde, Gesellschaft etc. ist mittlerweile so groß, dass er massive Auswirkungen auf den Menschen hat. Perfektionismus und permanente Selbstoptimierung sind en vogue.
Ein optimiertes ICH, ein optimiertes Menschsein beginnt bereits bei unserem Anfang. Wir wollen heute optimierte Kinder haben, wir wollen nicht nur das Geschlecht bestimmen, sondern auch die Fähigkeiten, die es haben soll und vieles mehr. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es kein böser Wille der Eltern ist, denn auch sie befinden sich in dem Netz „optimale“ Eltern zu sein, um optimierten Kindern eine Zukunft zu bieten. Da dies bereits bei der Empfängnis geschieht, haben die kleinen Wesen oft kaum eine Chance, sich selbst zu sein. Wir tragen einen Teil des Vaters in uns, einen Teil der Mutter und bringen einen Teil von uns selbst mit. Wir kommen durch unsere Eltern. Oft sind wir mit den Eltern und ihren Erwartungen, Konflikten und Themen so verstrickt, dass unser eigener Teil gar nicht zum Ausdruck kommt.
Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft. Die Polarisierung nimmt zu und wir sind Sklaven der Zeit und des Geldes geworden. Zudem sind wir Reizüberflutungen, Versuchungen, Umweltbelastungen, Arbeitsdruck, gesellschaftlichem, sozialem und wirtschaftlichem Druck, um nur einige zu nennen, ausgesetzt und haben mit deren Auswirkungen zu kämpfen. Um diesem Stress zu bewältigen, spalten wir uns von uns, selbst, dem Leben und von der Natur ab und funktionieren nur noch. Eine Folge davon ist unter anderem, dass unser Platz und die Zugehörigkeit strapaziert sind, nicht mehr gegeben sind. Manche wissen nicht mehr, wer sie sind und „performen“ nur noch. Soziale Medien und die KI fördern dies. Wer sind wir noch? Welche Bedeutung hat der Mensch in einer Welt, in der uns die Technik, die künstliche Intelligenz überflüssig macht? Unbewusst schürt dies Ängste und Unsicherheiten, die sich unter anderem in einem Gefühl der Sinn- und Wertlosigkeit äußern. Wir sollten sie als Chance begreifen, um uns selbst zu hinterfragen, unsere Ziele neu zu formulieren, uns selbst zu begegnen. Wer wollen wir sein?
Eine tiefe Sehnsucht des Menschen ist es, sich selbst und anderen in Wertschätzung und Respekt zu begegnen, sich als Menschen zu begegnen und nicht im Vergleich. Dies ist aus meiner Sicht die Basis, um dem Leben und der Welt, in der wir leben, mit Respekt zu begegnen, um zum Ganzen beizutragen, im Kleinen wie im Großen. Das nährt das Gefühl der Zugehörigkeit, ein Teil davon zu sein. Welchen Weltbildern, welchem Gedankengut und welchen Konzepten wollen wir folgen?
In unserer immer schneller werdenden Zeit hat der Mensch kaum noch die Möglichkeit, alle Reize zu verarbeiten. Dies fördert ein Getrenntsein von uns selbst. Wir erfüllen Erwartungen und funktionieren. Die Angst und der Druck, den Anforderungen zu genügen, steigt und steigt. Unser Körper reagiert auf diesen Stress: Der Preis dafür sind wir selbst. Ein Überlebensreflex wird aktiviert, ebenso wie unsere jeweilige Überlebensstrategie, die wir gewählt haben, um das Leben zu meistern. Es ist eine sinnvolle, dem Leben dienende Reaktion. Nur hört der Stress nie auf. Ein gibt einen Dauerstress. Der jeweilige aktivierte Überlebensreflex kommt nicht wieder in den Ruhemodus, um auf seinen nächsten Einsatz zu warten, sondern bleibt dauerhaft aktiv. Unsere digitale Welt und die ständige Erreichbarkeit schüren den Dauerstress. Es kommt zu einer Anpassung und Gewöhnung – so ist das Leben. Die Anfälligkeit für Krankheiten, psychosomatischen Beschwerden und Burnout nimmt zu. Auch ist es dann eine enorme Herausforderung, sich für einen konstruktiven Lebensweg zu entscheiden. Ein Hinzufügen und Erweitern unseres Repertoires aus dem Herzen heraus, wird zunehmend erschwert. Dies hat Folgen auf allen Ebenen.
Schon als Kind lernen wir, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, entwickeln eine Überlebensstrategie. Diese lernen und verfeinern wir mit zunehmendem Alter. Die Angst und der Druck, sie zu erfüllen, um dazuzugehören, einen sicheren Platz im Gefüge zu haben, hören nie auf. Immer wieder erzählen mir Menschen von einem Leben unter dem ewigen Druck, zu genügen. Aber es reicht nie. Sie sind bestrebt, sich weiter zu optimieren und perfektionieren, damit alles wie „am Schnürchen“ funktioniert. Unsere Erwartungen an uns selbst, die Erwartungen von außen und unsere unbedingte Bereitschaft zu funktionieren, zu überleben, bestimmen uns.
Für mich steht das Hinzufügen im Vordergrund meiner Arbeit. Mit unseren Überlebensstrategien ist alles in Ordnung. Das können wir, haben wir im Laufe der Zeit entwickelt und verfeinert. Darauf können wir bauen. Auf unserem Überlebensweg haben wir viele Fähigkeiten entwickelt. Das Ziel, zu überleben, haben wir erreicht. In diesem Sinne gibt es weder gute noch schlechte Überlebenswege/-strategien, es sind Möglichkeiten, die mehr oder weniger konstruktiv sind. Heute haben wir das Bedürfnis nach Leben. Das bedarf den Mut und die Bereitschaft, das Gewohnte -die Komfortzone- zu verlassen, um dem Bedürfnis, authentisch zu leben und zu sein, uns selbst zu erfüllen.
Ich wähle gerne das Bild eines Autos mit nur einem Gang. Ich kann es mit normaler Geschwindigkeit fahren und alles scheint in Ordnung zu sein. Ob ich hoher oder niedriger Geschwindigkeit fahre, es ist und bleibt ein Auto mit nur einem Gang. Das Auto hat nur den einen Gang, den Überlebensgang. Heute haben unsere Autos fünf oder sechs Gänge, das heißt wir haben und können Lebensgänge hinzufügen. Durch Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit unseren Grundmustern haben wir die Möglichkeit, die Neuroplastizität unseres Gehirns zu nutzen – wir können aktiv durch neue mutige Entscheidungen Lebenswege hinzufügen, neue Lebensräume und Möglichkeiten für uns entdecken und Handlungskompetenzen entwickeln. Es ist eine Selbstentwicklung, denn unser Nichtperfektsein, unsere Unvollkommenheit, ist unser höchstes Gut und die Grundlage für unsere Bewusstseinsentwicklung, wenn wir uns dafür entscheiden.
Wir sind keine zu optimierenden Einheiten, wir sind Menschen. Das Quäntchen Unvollkommenheit, das Nichtperfekte, macht uns aus. Es ist die Grundlage unseres Menschseins und unserer Bewusstseinsentwicklung. Es ist eine Herausforderung, der Versuchung der Materie nicht zu erliegen, denn wir sind mehr als nur Materie. Das „sowohl als auch“ und das „und“ zu entdecken, bereichern uns und das Leben.
Was wäre, wenn wir uns von der Bürde eines optimierten Ichs befreien würden? Was wäre, wenn wir das Leben leben? Was wäre, wenn wir zu einem Miteinander in uns, mit den anderen, der Erde, den Ressourcen, der Spiritualität, der Wissenschaft, der modernen Medizin, der Naturmedizin, zu einem Miteinander von Seele, Geist und Körper kämen?
Was wäre, wenn wir eine Verpflichtung mit uns selbst eingehen würden: das Ja zu uns selbst, das Ja zum Leben, das Ja zum Geschenk des eigenen Lebens, das Ja zum Tod? Was wäre, wenn wir die Freude an den vielen Möglichkeiten entdecken würden? Was wäre, wenn wir uns in uns beheimaten und frei von auf Angst basierten Gedanken leben würden? Was wäre, wenn wir die Einzigartigkeit in der Vielfalt entdecken?
Der Fluss des Lebens fließt und wir entscheiden, ob wir auf den Wellen des Lebens surfen oder ob wir gegen den Lebensfluss leben und kämpfen wollen, denn das Leben geschieht immer. Es ist Bewegung in Raum und Zeit. Wir wählen und entscheiden.
Wenn ich optimal bin, mag es Bereiche oder Lebensbereiche geben, in denen es möglicherweise gut ist, so zu sein. Entlastend wäre es dann, Räume und Möglichkeiten hinzuzufügen, in denen wir es nicht sein müssen. Wenn wir uns das Innere, die Seele, wie ein inneres Haus vorstellen, dann haben wir verschiedene innere Räume. Eine Möglichkeit ist, diese zu definieren. Ich lade Menschen gerne ein, ihr inneres Haus zu malen. Es ist immer wieder interessant und sagt viel über uns aus.
Der Druck, ein optimiertes Wesen zu sein, was unserer Natur und dem Leben widerspricht, wird bereits vom werdenden Leben wahrgenommen und es reagiert darauf, denn das Leben kommuniziert immer, nur in der Regel nicht verbal. Es werden unbewusste Entscheidungen getroffen, die erst viel später verbal formuliert werden können. Inwieweit wir dafür überhaupt das Vokabular haben, bleibt offen.
Die Bürde, ein optimiertes Wesen zu sein, führt eher zu einer totalen Normierung und Gleichschaltung des Individuums. Die Individualität und damit die Vielfalt kann damit verloren gehen. Jeder versucht, der Sinnlosigkeit zu entgehen. Das kann dazu führen, dass das Verhalten eines Ertrinkenden entsteht, der verzweifelt versucht, nicht zu ertrinken.
Wir leben in dieser Welt und die ist, wie sie ist. Unsere Aufgabe ist es, uns achtsam zu hinterfragen und unser Leben konstruktiv zu gestalten.
Dabei unterstütze ich Dich gerne, privat wie auch beruflich.